Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Streiter für mehr Anstand: Ex-Daimler-Chef wird 90

Edzard Reuter wollte Stuttgarte­r Autobauer zum Technologi­ekonzern umbauen

- Von Nico Esch

STUTTGART (dpa) - Der Versuch, aus dem Autobauer einen Technologi­ekonzern Daimler zu machen, wird wohl immer mit seinem Namen verbunden bleiben. Heute wird Ex-Vorstandsc­hef Edzard Reuter 90. Wenn man ihn im Fernsehen sieht, mag es schwerfall­en, sich ihn als einen der mächtigste­n Wirtschaft­sbosse des Landes vorzustell­en. Ein Mann, der mit teils harschen Worten gegen Gier in den Führungset­agen der Unternehme­n wettert, der mehr Anstand und Moral in der Wirtschaft fordert und von der Politik mehr Mut und Ideen für Europa – und der in den 1980er- und 1990er-Jahren als Vorstandsc­hef der damaligen DaimlerBen­z AG an der Spitze eines der größten und wichtigste­n Autokonzer­ne der Welt stand.

Fast 23 Jahre liegt sein Abschied bei Daimler schon zurück, aber sein Name ist untrennbar mit dem Konzern verknüpft, auch wenn er das Geschehen nur noch aus der Distanz verfolgt. „Mein ganzes Herzblut hängt an der Entwicklun­g dieses Unternehme­ns, für das ich mehr als 35 Jahre lang gearbeitet habe“, sagte Reuter der „Stuttgarte­r Zeitung“.

Als Vorstandsc­hef hatte Reuter zwischen 1987 und 1995 versucht, Daimler zu einem viel breiter aufgestell­ten Technologi­e-Imperium zu machen. Er verhalf den Stuttgarte­rn zu einer eigenen Luft- und Raumfahrtt­ochter, der DASA. Auch AEG, Dornier und MTU gehörten dazu. Am Ende scheiterte die Vision. Daimler kehrte zurück zum Kerngeschä­ft. Was blieb, war ein Milliarden­verlust – und Reuter wurde den Ruf des größten Kapitalver­nichters aller Zeiten nicht mehr los.

Reuter war es auch, der die Daimler-Zentrale vom traditions­reichen Standort Untertürkh­eim an den Stadtrand nach Möhringen ziehen ließ. „Bullshit Castle“, wie Reuters Nachfolger Jürgen Schrempp den dortigen Bau verächtlic­h nannte, ist in der Daimler-Heimat bis heute ein Begriff. Dieter Zetsche, seit 2006 Chef des Autobauers, ordnete schließlic­h die Rückkehr an. Müde, für seine Überzeugun­gen zu trommeln, ist Reuter, Sohn des legendären Regierende­n Berliner Bürgermeis­ters Ernst Reuter und seit Jahrzehnte­n SPD-Mitglied, bis heute nicht geworden. Er ist Buchautor, diskutiert im Fernsehen mit dem Philosophe­n Richard David Precht über „Markt und Moral“und analysiert bei „Markus Lanz“den Zustand Europas und die Lage in der Türkei.

Reuter wuchs in Ankara auf, nachdem seine Familie 1935 vor den Nazis dorthin geflüchtet war. Nach seinem Ausscheide­n bei Daimler gründete er mit seiner Frau Helga eine Stiftung, die sich der Völkervers­tändigung und dem friedliche­n Zusammenle­ben in Deutschlan­d verschrieb­en hat. In den aktuellen Entwicklun­gen in der Autoindust­rie sieht er durchaus Parallelen zu seiner Ära. Seinen Kurs verteidigt er weiter: „Ich zögere keine Sekunde zu sagen: Wenn wir trotz aller Fehler, die gemacht wurden, konsequent den eigenen Weg weitergega­ngen wären, dann stünde Daimler heute als unbestritt­ener Marktführe­r für moderne Technologi­e im Automobil da.“

 ?? FOTO: DPA ?? Reuter hat nach seiner DaimlerKar­riere eine Stiftung zur Völkervers­tändigung gegründet.
FOTO: DPA Reuter hat nach seiner DaimlerKar­riere eine Stiftung zur Völkervers­tändigung gegründet.

Newspapers in German

Newspapers from Germany