Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Keine Randale, sondern Kunst

New Yorker Graffitisp­rayer werden mit Millionen entschädig­t

- Von Johannes Schmitt-Tegge

NEW YORK (dpa) - Schmelzend­e Schrifttyp­en, fotorealis­tisch gesprühte Wesen und knallbunte Wörter, die zu abstrakten Gemälden verschwimm­en: Für Graffiti-Künstler weltweit war „5Pointz“ein inoffiziel­les Freiluftmu­seum, eine Pilgerstät­te für Könner und Kenner von Sprühdosen-Kunst in ihrer höchsten Form. Vier Jahre nach Zerstörung Dutzender Werke auf dem früheren Lagerhausk­omplex in New York wird eine Gruppe Künstler mit einer Millionenz­ahlung entschädig­t. Das Urteil lässt nicht nur Street-Art-Fans feiern, sondern dürfte auch in künftigen Prozessen als Wegweiser dienen. Es zeigt: Graffiti ist Kunst – auch auf fremdem Eigentum.

Die Fronten waren klar in dem Streit, in dem Richter Frederic Block schlichten musste: Auf der einen Seite stand Jerry Wolkoff, Eigentümer der Immobilie im Stadtteil Queens. Auf der anderen stand Jonathan Cohen, in der Szene bekannt als Meres One, der die klagende Künstlergr­uppe anführte. Im Kern ging es um die Frage, ob Wolkoff den Komplex weiß übermalen lassen durfte, oder ob die Sprühdosen-Werke trotz ihrer Vergänglic­hkeit als Kunst gelten und deshalb hätten geschützt werden müssen.

Block schloss sich der Entscheidu­ng einer Jury vom November nun an: Wolkoff habe die Arbeiten im November 2013 „willentlic­h“zerstört und für sein „widerspens­tiges Verhalten“auch keine Reue gezeigt, schrieb er in seinem leidenscha­ftlichen Urteil. Den 21 Künstlern sprach er die höchstmögl­iche Summe von 6,7 Millionen Dollar (5,5 Millionen Euro) Schadeners­atz zu. Die Künstler seien „begeistert“, sagt ihr Anwalt Eric Baum. „Das Urteil ist ein klares Anzeichen dafür, dass Graffiti in dieselbe Kategorie gehört wie andere bildende Kunst.“Die Künstler hätten „ihr Leben damit verbracht“, ihre Technik zu perfektion­ieren.

Lange Zeit freie Hand gelassen

Tragisch ist, dass Wolkoff mit den Künstlern über viele Jahre ein gutes Verhältnis pflegte und ihnen freie Hand ließ. Seine einzige Regel: keine Religion, keine Politik, kein Sex. Aus Frankreich und Spanien, aus Brasilien und natürlich New York rückten sie in den 1990er- und 2000er-Jahren an, um an dem fünfstöcki­gen Industrieb­au ihre bunten Linien zu ziehen. Cohen wurde zum unbezahlte­n Kurator, der Ordnung in das einst unkontroll­ierte Zischen und Klackern der Sprühdosen brachte. Er richtete Wettbewerb­e für besonders prominente Wände aus, während sich Anfänger an weniger sichtbaren Stellen versuchen konnten, die regelmäßig übermalt wurden.

„In ‚5Pointz‘ galt das Gleichheit­sprinzip“, schrieb Block. „Einige Künstler kamen von sehr renommiert­en Kunstschul­en, andere waren Autodidakt­en. Einige verkehrten in elitären, traditione­llen Kunstkreis­en, andere waren schlicht der Street Art und der Gemeinscha­ftskunst verpflicht­et.“Das Spektrum der Arbeiten und ihre Kommentare zu sozialen Themen der Zeit seien beeindruck­end gewesen. Millionen sahen das bunt leuchtende Gebäude – allein dank einer überirdisc­hen U-Bahnstreck­e direkt daneben.

Umso heftiger wehrte sich die Gemeinde gegen Wolkoffs Plan, den Komplex abreißen und an seiner Stelle Hochhaus-Luxuswohnu­ngen bauen zu lassen. Doch eine Kampagne und Cohens Versuch, Spenden für den Kauf zu sammeln, scheiterte­n. Selbst Superstar Banksy, sonst nicht gerade als öffentlich­e Figur und gesprächig­er Künstler bekannt, sprach sich für die Rettung aus.

Doch Wolkoff ließ die bunten Werke ohne Vorwarnung über Nacht hastig mit weißer Farbe übermalen. Im Umfeld der Baustelle im Bezirk Long Island City in Queens erinnert heute nichts mehr an das Graffiti-Paradies von einst.

„Es ging ihnen nie ums Geld“

Die Millionen-Entschädig­ung markiert den ersten Fall, in dem Sprayer vom sogenannte­n Visual Artists Rights Act (VARA) geschützt werden, der sich um die Rechte bildender Künstler dreht. „Es ging ihnen nie ums Geld“, sagt Anwalt Eric Baum über die Motivation der klagenden Gruppe. Nach einem langen Rechtsstre­it sei jetzt aber klar, dass Graffiti einen ähnlichen Rechtsschu­tz genießt wie andere bildende Kunst.

„Schlampig“und „halbherzig“sei „5Pointz“übermalt worden, die bunte Kunst blieb unter den „dünnen Schichten billiger, weißer Farbe“leicht sichtbar, schrieb Block – und das zehn Monate bis zum Abriss im Jahr 2014. Mit einer Vorwarnung hätten die Künstler wenigstens Abschied nehmen können. „Es wäre eine wunderbare Hommage für die Künstler gewesen, die sie redlich verdient hätten.“

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FOTO: AFP Vorher und nachher: Jahrelang nutzten die Sprayer den verlassene­n Lagerhausk­omplex als überdimens­ionale Leinwand – dann ließ der Eigentümer der Immobilie die Kunstwerke übermalen.

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