Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Das ist keine Beschreibung, sondern ein politisches Statement“
RAVENSBURG - Der Islam gehört zu Deutschland – und ist keine Gefahr für christliche Traditionen. Das sagt Reiner Anselm, Professor für evangelische Systematische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, im Gespräch mit Daniel Hadrys.
Herr Anselm, teilen Sie Horst Seehofers Einschätzung, der Islam gehöre nicht zu Deutschland?
Das ist ja keine Beschreibung, sondern ein politisches Statement. Als solches teile ich die Einschätzung nicht, auch nicht als demografisches Argument. Ein großer Prozentsatz von muslimischen Mitbürgern sind Deutsche. Dazu kommen noch Muslime ohne deutschen Pass. Insofern: Der Islam gehört zu Deutschland. Bestimmte Werte sind aber enger mit der christlichen Tradition verbunden als mit einer islamischen. Wenn Seehofer sagen würde: „Die Scharia gehört nicht zu Deutschland“, würde ich sagen, er hat recht.
Mehr als vier Millionen Menschen muslimischen Glaubens leben hierzulande. Sehen Sie die Gefahr, dass wir „aus falscher Rücksichtnahme“ihnen gegenüber Traditionen und Bräuche aufgeben, wie Seehofer sagt?
Ich sehe das nicht als Gefahr. Wenn diejenigen, die sich über einen Verlust von christlicher Kultur und Heimatverbundenheit beklagen und das den Muslimen zuschreiben, auch nur ein Viertel dieser Energie für die Pflege eigener christlicher Tradition aufbringen würden, würde ein Schuh draus werden. Ich halte es für schlichtweg verkehrt, die eigene Schwäche einer Minderheit zuzuschreiben. Wenn sich mit Seehofers Aussage eine Forderung verbinden würde, sich stärker für das Christentum zu engagieren, wäre ich als Theologe der Letzte, der etwas dagegen hat.
Die Religion spielt selbst für christlich geprägte Menschen eine immer kleinere Rolle. Die Kirchen verzeichnen immer weitere Austritte. Geben die Christen ihre Traditionen selbst auf ?
Sie sind sich zu wenig bewusst, dass die Spielregeln einer freiheitlichen, am Individuum orientierten demokratischen Gesellschaft nicht einfach vom Himmel gefallen sind. Diese Spielregeln sind auch für den weit überwiegenden Teil der Muslime attraktiv. Sie beruhen auf einer Grundüberzeugung, dass alle Menschen gleich sind, weil sie in gleicher Weise von Gott geschaffen wurden. Das prägt unsere liberale Gesellschaft sehr stark. Das Christentum macht aber gerade eine Wohlstandsverwahrlosung durch. Man merkt nicht mehr, dass man diese Traditionen pflegen muss. Geschieht dies nicht, werden wir nicht von Muslimen überrannt, sondern wir landen in einer verrohten, sich polarisierenden politischen Kultur.
Wie lässt es sich verhindern, dass Ostern irgendwann nur noch auf Schokohasen reduziert wird und Weihnachten auf Geschenke?
Die Kirchen, zum Teil die Politik und auch die Christen selber sind aufgefordert, sich klarzumachen, worin der Beitrag des Christentums für eine liberale politische Kultur besteht. Aus einem Osterhasen kann man kein politisches Programm machen. Das Christentum ist sehr viel reichhaltiger. Es ist als Arrangement aus der Aufklärung, dem Humanismus und der antiken Tradition entstanden. Dafür müssen die Christen eintreten, und zwar nicht in Abgrenzung zu den Muslimen. Diese Tradition macht das Land attraktiv für alle, die diese Werte auch schätzen.