Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Kunst im Körper
Die medizinische Illustratorin Isabel Christensen zeichnet für anatomische Lehrbücher, Wohn- und Wartezimmer
Vor der Tür steht Hugo. Ein menschliches Skelett. Je nach Wetter trägt es mal Schal, mal Sonnenhut. Das Knochengerüst ist Isabel Christensens Lockvogel. Sozusagen die Einstiegsdroge in einen faszinierenden Kosmos. Denn die 51-Jährige zeigt in ihrem Münchner Atelier „Medical Art & More“, wie es in unserem Innersten aussieht: Sie ist medizinische Illustratorin. Ein Beruf, der in Deutschland wohl immer Exotenstatus haben wird, ohne den aber jeder Medizinstudent aufgeschmissen wäre. Denn kein anatomisches Lehrbuch kommt ohne die Bilder von Muskelgewebe, Stoffwechselvorgängen oder Querschnitten durch Organe aus.
Doch Christensens Werke sind nicht nur für das einschlägige Fachpublikum, medizinische Verlage oder Pharmaunternehmen interessant. Die aufwendigen Illustrationen werden auch als Kunst gehandelt. Wer etwas auf sich hält, hängt sich längst keinen Billigdruck aus dem Möbelgeschäft mehr übers Sofa, sondern einen Querschnitt durchs Gewebe. Sozusagen Zellen in Aktion statt New York bei Nacht.
Informative Deko für die eigenen vier Wände liegt im Trend. Der Renner sind derzeit zum Beispiel alte Schulschautafeln mit leichtem Gilb. Auf Flohmärkten, in Antiquitätenläden und im Netz werden die Leinwände zwischen den typischen Holzleisten hoch gehandelt – egal, ob es um heimische Wiesenblumen, die Wirbelsäule oder Walfischarten geht. Online-Plattformen wie Etsy, Dawanda oder Wallcharts bieten Nachdrucke im Retrostil an.
In genau diese Nische passen auch Isabel Christensens Illustrationen vom menschlichen Körper. „Die Leute wollen nicht mehr nur ein schönes Stillleben fürs Wohnzimmer. Der Trend geht zu Bildern, die Spannung erzeugen und gleichzeitig eine Information vermitteln“, erklärt die Akademikerin.
Das schaffen ihre plastischen Illustrationen. Wer Ästhet und nicht Arzt ist, meint in den pastelligen Farben und runden Formen ihrer großformatigen Zellbilder auf den ersten Blick etwas Botanisches zu erkennen. Oder doch eher die Planeten einer fernen Galaxie? Dass es sich bei dem Dargestellten nicht um ScienceFiction, sondern tatsächlich um Gewebe mit Blutkörperchen und Nervenzellen handle, sorge für den nötigen Aha-Effekt beim zweiten Hingucken.
Expliziter, und somit auch für den Laien erkennbar, sind hingegen ihre Illustrationen von Herz, Lunge oder Auge. Wobei der Fokus nicht nur auf der korrekten Darstellung von Venen und Arterien, von Sehnerv und Tränenkanal liegt, sondern auch auf einer harmonischen Farbgebung. „Ein Rot, bei dem es einem kalt den Rücken runterläuft, finden Sie bei mir nicht“, sagt Christensen, die in Stuttgart Kunst studiert und sich an der medizinischen Fakultät der Universität in Bologna auf das medizinisch-anatomische Zeichnen spezialisiert hat.
Das ist auch ein Grund dafür, warum sich Ärzte ihre Werke ins Wartezimmer hängen. Und ein Architekt für alle Mitarbeiter Handyhüllen mit Augenmotiv bestellt. Sie liefert auch Frühstücksteller mit Sehzellen-Druck. „Das Auge isst mit“, sagt sie lachend.
Rund drei Wochen sitzt Christensen an einer Illustration. Dazu gehört auch, sich in die Materie einzulesen. „Ich überlege mir, wo ich das Objekt öffne, und in welchem Winkel ich es zeige.“Erst wird eine Skizze entworfen, diese wird eingescannt und dann digital an einem großen Bildschirm Schicht für Schicht aufgebaut und koloriert.
Berufungserlebnis in New York Kunst und Wissenschaft, das sind die beiden Leidenschaften von Isabel Christensen. „Ich kann mir keine fantastischere, spannendere Arbeit vorstellen“, schwärmt sie. Während eines Praktikums in einer Werbeagentur in New York hatte sie ihr Berufungserlebnis – durch Zufall. „Die Art-Direktorin nahm mich mit zu ihrem Onkel, einem medizinischen Illustrator. Als ich in seinem Atelier die Zeichnungen, medizinischen Präparate und Skelette sah, wusste ich sofort, was ich werden wollte.“
Weil das Fach in Deutschland nicht studiert werden konnte, zog sie nach Bologna. „Neben dem klassischen Medizinstudium mit Sezierstunden und Operationen saß ich dort auch am Zeichentisch“, erzählt Christensen. Das medizinische Wissen ist für ihre Arbeit unabdingbar. „Wie soll ich einen Muskel, einen Knochen oder Fettgewebe zeichnen, wenn ich es noch nie gesehen, noch nie getastet habe?“
Noch immer gehören OP-Tage zu ihrem Arbeitsalltag. „Wenn ich eine neue Operationstechnik – von der Lage des Patienten über die Schnittführung und Instrumentenauswahl bis hin zum Operationsfeld – illustriere, schaue ich dem Chefarzt über die Schulter und mache Fotos. Meine Größe von 1,85 Meter ist da von Vorteil.“
Der erste OP-Besuch während des Studiums endete allerdings beinahe in einer Ohnmacht. „Da wurde eine Hüftprothese angebracht. Als der Professor den Oberschenkelkopf absägte, musste ich raus.“Ein Espresso mit zehn Löffeln Zucker brachte sie wieder auf die Beine. „Ich habe mir gedacht: Wenn ich jetzt nicht wieder reingehe, schaffe ich es nie wieder. Seitdem hatte ich nie wieder Probleme.“
„Neben den Auftragsarbeiten auch Kundenkontakt zu haben, ist fantastisch.“Das direkte Feedback hat Christensen lange gefehlt. Bevor sie vor zwei Jahren ihr Atelier in München-Haidhausen bezog, hat die Mutter einer zwölfjährigen Tochter vor allem von zu Hause aus gearbeitet. „Wenn ein Auftrag abgeschlossen war, kam ein Dankeschön und das gedruckte Werk. Im Laden sieht
Isabel Christensen zur harmonischen Farbgebung
man direkt die Begeisterung der Leute“, sagt die Künstlerin.
Längst kann die sie Aufträge ablehnen. Das war nicht immer so. Als sie nach dem Studium in München landete, musste sie erst Kunden akquirieren. „Anfangs habe ich sogar die Eiskarte vom Spatenhaus gezeichnet.“
Anatomische Bilddatenbank
Parallel begann Christensen mit dem Aufbau einer anatomischen Bilddatenbank. Heute stehen dort mehr als 800 medizinisch-wissenschaftliche Illustrationen zum Download bereit. Aus diesen können sich nicht nur Verlage oder Pharmaunternehmen, sondern auch an Kunst interessierte Kunden ein Motiv auswählen. Eine Illustration hinter Acryl gibt’s ab 350 Euro, auf Leinwand beginnt die Preisskala bei 60 Euro. Wer sich einen völlig neuen Eigenentwurf wünscht, muss mit mehreren Tausend Euro rechnen.
Ab und zu unternimmt Christensen motivtechnische Ausflüge. „Manchmal muss die Kreativität einfach auf anderen Wegen raus. Dann fotografiere ich im Englischen Garten oder zeichne Aquarelle.“Ihre Tierlinie hat sogar eigene Fans. Auch Christensens Zellbilder sind eine kleine Flucht. „Oft haben die Auftragsillustrationen ja mit Krankheiten zu tun.“Bei den Zellbildern sei sie hingegen freier. „Da tauche ich ein Bild schon mal in einen Lila- oder Türkiston, das geht sonst natürlich nicht.“
Inspiration bekommt sie auf ihren Reisen. Dann sammelt sie Kuriositäten rund um die Medizin. Denn in ihrem Ladengeschäft und Onlineshop gibt es nicht nur ihre Illustrationen auf Postkarten und Leinwänden, sondern auch jede Menge Schräges und Schönes zum Thema Anatomie und Medizin. Duschgel in Form einer Blutkonserve, Knochenstifte, ein Seuchenquartett oder Nervenbündel aus Fruchtgummi. Und natürlich Schautafeln. Nur Hugo, das Skelett, ist unverkäuflich.