Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Plünderungen in Afrin
Erdogan kündigt Ausweitung der Offensive an
ANKARA/ULM (AFP/sz) - Die türkische Armee hat ihre Kontrolle über die syrische Stadt Afrin einen Tag nach deren Eroberung gefestigt, während verbündete syrische Kämpfer ihre Plünderungen fortsetzten. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete am Montag, die Kämpfer hätten in großem Ausmaße Geschäfte, Häuser und Regierungsgebäude ausgeraubt. Auch Gebäude seien angezündet und religiöse Statuen zerstört worden. Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte eine Ausweitung der Offensive auf von Kurden kontrollierte Gebiete in Syrien an. „Wir haben ein Komma gesetzt. So Gott will kommt als nächstes ein Punkt“, sagte er in Ankara.
Indes haben Unbekannte in Ulm in der Nacht zum Montag zwei Brandsätze gegen ein Haus geworfen, in dem sich eine Moschee, das Vereinslokal und Büroräume der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüs befinden. Von den Behörden wird nicht ausgeschlossen, dass es einen Zusammenhang mit der türkischen Militäroffensive in Afrin geben könnte.
ULM - Der Schock in Ulm sitzt tief: Unbekannte haben in der Nacht zum Montag zwei Brandsätze gegen ein Wohn- und Geschäftshaus geworfen, in dem sich eine Moschee, das Vereinslokal und Büroräume der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüs (IGMG) befinden. Die fünf Hausbewohner, unter ihnen der Imam, blieben ebenso unverletzt wie die Bewohner des Nachbarhauses. Polizisten konnten die Flammen löschen.
Wenige Stunden nach der Tat deutet vor der IGMG-Moschee, einer von sechs Moscheen in der Donaustadt, fast nichts mehr auf den Brandanschlag hin. Der türkische Obst- und Gemüsehändler, der im gleichen Haus seinen Laden betreibt, lädt gleichmütig Äpfel aus. Zwischen Bahnhof und Ehinger Tor, in dem etwas heruntergekommenen Stadtquartier namens Dichterviertel, geht das Leben scheinbar seinen gewohnten Gang. Nur wer genau hinschaut, entdeckt Reste des Löschpulvers und ein paar Quadratmeter verrußten Asphaltes vor dem fünfstöckigen Backsteinhaus. Bilder, die allererste Zeugen mit ihren Handys aufgenommen haben, zeigen, wie Flammen an der Fassade züngeln. Schnell wird klar: Hätten die Molotow-Cocktails die Scheiben durchschlagen, wäre das Gebäude, in dem freitags bis zu 250 Gläubige beten, ein Raub der Flammen geworden, hätte es womöglich Tote gegeben.
Zeugen hatten den Brand um 3 Uhr der Polizei gemeldet. Die leitete sofort eine Fahndung ein, die Kriminalpolizei nahm Ermittlungen auf. Sie geht bislang davon aus, dass Unbekannte zwei Flaschen mit einer brennbaren Flüssigkeit gegen die Wand des Hauses warfen. Eine der Flaschen sei ohne weitere Folgen zerbrochen, die zweite habe vor dem Haus den Brand ausgelöst. In unmittelbarer Nähe stellte die Polizei drei weitere Flaschen mit einer brennbaren Flüssigkeit sicher. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart übernahm nach eigenen Angaben die Leitung der Ermittlungen, weil der Verdacht bestehe, dass im öffentlichen Raum eine Straftat mit extremistischem Hintergrund verübt worden sei.
Im IGMG-Versammlungsraum, in dem sich etwa 20 Männer versammelt haben, herrscht am Nachmittag nach der Brandnacht bedrückte Stimmung. Zwar will sich die Polizei nicht zu Mutmaßungen äußern, wonach es einen Zusammenhang zum militärischen Vorgehen der Türkei gegen Kurden im syrischen Afrin geben könnte, aber die Frage steht im Raum: Ist der politische Konflikt zwischen der Türkei und den Kurden nun in Ulm angekommen?
Die Islamische Gemeinschaft Millî Görüs („Nationale Sicht“) ist politisch klar zuzuordnen. Sie war in der Türkei vom islamisch-konservativen Politiker Necmettin Erbakan gegründet worden, der 2011 starb. Er war unter anderem 1996/97 Ministerpräsident und galt als enger Vertrauter des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. In Schwaben hat die IGMG 3000 Mitglieder in 16 Ortsvereinen. Gleichzeitig ist in Ulm die kurdische Community aktiv. Fast jede Woche demonstrieren die Kurden friedlich in der Innenstadt gegen die Offensive des türkischen Militärs.
Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums erklärt den Hintergrund: „Deutschland ist aufgrund des hiesigen Bevölkerungsanteils auch Spiegel der türkisch-kurdischen Konflikte in den Heimatregionen. Die Vorfälle in der Region um Afrin haben auf die hier lebenden Kurden einen Emotionalisierungseffekt.“Davon unabhängig gelte aber: „Gewalt auf unseren Straßen darf wie jede andere Form von Straftaten unter keinen Umständen geduldet werden.“
Ulm war in den vergangenen Monaten immer wieder Schauplatz gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden: Im Juli 2016 sollen acht Mitglieder einer laut Staatsanwaltschaft kurdisch dominierten Bande mit dem Namen „Bahoz“einen türkischen Schnellimbiss mit Steinen und Flaschen angegriffen haben. Gäste erlitten Schnittsowie Schlagverletzungen. Der Betreiber soll der „Präsident“der als türkisch-nationalistisch geltenden Rockergruppe „Osmanen Germania BC“sein. Der Angriff wird von Ermittlern als Akt einer Bandenrivalität gewertet. Der Prozess, in dem sich die Kurden wegen Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung sowie teils auch versuchter räuberische Erpressung und illegalen Drogenbesitzes verantworten müssen, zieht sich seit Monaten hin.
Erst am Sonntagabend hatte es eine spontane Demonstration im Zusammenhang mit den Protesten gegen die türkischen Angriffe auf Kurden in Nordsyrien gegeben: Weil mehrere junge Männer am Hauptbahnhof auf den Gleisen unterwegs waren, musste der Zugverkehr dort zwischenzeitlich unterbrochen werden. Ein Intercity aus München musste eine Schnellbremsung einleiten. Neun Männer im Alter zwischen 18 und 27 Jahren seien ins Gleisbett geklettert, alle Gleise seien daraufhin sofort von etwa 20.05 Uhr bis 20.38 Uhr gesperrt worden. Als die Bundespolizisten eintrafen, sei einer der Männer unter den IC gekrochen. Erst nach längerem Zureden kam er wieder hervor.
Eine bundesweite Eskalation
Bundesweit war der Konflikt in den vergangenen zwei Wochen eskaliert. Bekannt sind bislang Angriffe an sechs verschiedenen Orten: Vor zehn Tagen trafen Brandsätze das Gebäude von Millî Görüs in Lauffen am Neckar. In der Nacht zum 11. März brannte es in einer Berliner Moschee. In Itzehoe (SchleswigHolstein) wurden Fenster einer Moschee eingeschlagen. Kurz darauf brannte rund einen Kilometer entfernt ein türkischer Gemüseladen. In Meschede und Ahlen (NordrheinWestfalen) registrierte die Polizei nächtliche Angriffe auf die Vereinsheime türkischer Kulturvereine.
„Natürlich gibt es innerhalb der türkischen Gemeinschaft eine gewisse Spaltung“, sagt Masallah Dumlu, der für die Grünen im Neu-Ulmer Kreistag sitzt. Dumlu kann sich allerdings kaum vorstellen, dass dies der Grund für den Anschlag sei. Denn etwa die Hälfte des IGMG in Ulm sei kurdischstämmig. Dumlu hält deswegen auch einen rechtsradikales Motiv für möglich.
Auch die Ulmer IGMG-Verantwortlichen suchen regelmäßig das Gespräch mit der Polizei: „Erst vergangenen Mittwoch waren wir im Präsidium“, berichtet Ahmed Güzel, der für die Kommunikation verantwortliche IGMG-Funktionär in Schwaben, „wir haben unsere Besorgnis ausgesprochen. Die Polizei sagte uns aber, man sehe keine Gefahr.“Wolfgang Jürgens, Sprecher des Ulmer Präsidiums, bestätigt, dass es ein Gespräch gab: „Wir wissen um die Gefahren und haben auch die Streifen öfter fahren lassen, es gibt eine enge Betreuung.“Verhindern könne man Anschläge wie jenen vom Montagmorgen aber nicht.
Am Montag zeigen die Ulmer Solidarität: Obwohl über die Hintergründe der Tat noch nichts bekannt ist, äußern sich die Sprecher des Ulmer Rats der Religionen, Volker Bleil (evangelische Kirchengemeinde), Israfil Polat (DITIB Moscheeverein) und Shneur Trebnik (jüdische Synagoge) besorgt und betroffen angesichts eines möglichen politischen oder religiösen Motivs: Sie treffen sich im IGMG-Gemeindehaus, sprechen mit den Anwesenden und versichern: „Wir verurteilen diese Tat auf das Schärfste. Ganz gleich, was die Hintergründe oder Motive der Täter sein mögen, werden wir Anschlägen auf Gebetshäuser unabhängig von Konfession oder Religionsgemeinschaft entschieden entgegentreten. Unterschiede im Glauben dürfen nie Anlass für Gewalt sein.“
Der Ulmer Oberbürgermeister Gunter Czisch äußert sich ebenfalls betroffen: „Nicht vorzustellen, was hätte passieren können, wenn ein Feuer nachts in dem Haus, das von vielen Familien bewohnt wird, ausgebrochen wäre. Egal, welche Motive die oder der Täter für sich reklamieren: Hier wurde fahrlässig und unverantwortlich mit dem Leben und der Gesundheit von Menschen gespielt.“
Die IGMG-Verantwortlichen fordern jetzt zwei Dinge: Aufklärung und politische Solidarität: „Politisch steht niemand hinter uns!“Die vom neuen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) angestoßene Debatte um den Islam sei äußert schädlich und heize den Konflikt noch an, bedauert Mohammed Bedelce: „Wir dachten, die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre, sei vorbei, schließlich sind wir seit fast 60 Jahren hier!“
„Gewalt auf unseren Straßen darf unter keinen Umständen geduldet werden.“Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums
„Unterschiede im Glauben dürfen nie Anlass für Gewalt sein.“
Die drei Sprecher des Ulmer Rats der Religionen