Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Wie Walgesang im nachtschwarzen Ozean
Wie sich Zwölftonmusik in völliger Dunkelheit anhört
ULM - Wie es sich anfühlt, in wirklich völliger Dunkelheit zu sitzen und ein Streichquartett anzuhören? Der Grazer Komponist Georg Friedrich Haas, ein Vertreter der auf Obertonreihen basierenden Spektralmusik, schuf in der Vergangenheit bereits mehrfach Werke, die in absoluter Dunkelheit aufgeführt werden müssen. Sind nicht auch die letzten Ritzen eines Raumes abgeklebt, durch die Restlicht einfallen könnte, und sind nicht auch Notausgangs-Schilder vollständig abgedeckt, gibt es keine Genehmigung zur Aufführung. Daran scheitern viele - zumal es auch für die Musiker eine extreme Herausforderung ist, ein Werk ohne auch nur eine Ahnung von Lichtschein aufzuführen und damit des Kontaktes untereinander vollständig beraubt zu sein.
So ist es nicht erstaunlich, dass Haas´ 10. Streichquartett, komponiert 2016, vor der Aufführung durch vier Musiker und Musikerinnen des European Music Projekts (Wolfgang Bender, Violine, Selma Sadek, Violine, Miriam Götting, Viola, Mathis Mayr, Violoncello) erst durch ein einziges Ensemble gespielt worden war. Wie extrem das Experiment tatsächlich ist, zeigt der Umstand, dass Jürgen Grözinger, Leiter des Neue Musik-Festivals, dem Publikum eine dreiminütige Testphase gab, um auszuprobieren, ob jeder einzelne Zuhörer die knapp 40-minütige Aufführung des Streichquartetts in der tiefen Schwärze aushalten würde. Keiner der Zuhörer verließ den Stadthaus-Saal, doch lag eine angespannte Atmosphäre über den Festival-Besuchern, als die vier Musiker die Bühne betraten und nach einer kurzen Minute der Konzentration der Saal in Schwärze getaucht wurde, die keinerlei Bewegung wahrnehmen ließ, auch nicht die eigene Hand oder den Menschen auf dem Nebensitz. Die Reduzierung auf einen einzigen Sinn, auf das Gehör, durch Ausschaltung anderer Sinne ist das Ziel dieses Abenteuers. Und während das Gehör extrem aktiv wird, verstärkt sich nicht nur die Wahrnehmung für die Musik, sondern für alle minimalen Geräusche im Saal. Jemand zieht einen Reißverschluss zu, ohne dass zuzuordnen wäre, wer. Jemand hustet, jemand gähnt, jemand räuspert sich; ein Fuß scharrt. Die Musik? Haas´ bricht das vor knapp hundert Jahren von Wiener Komponisten um Arnold Schönberg entwickelte Zwölfton-System auf und setzt Mikrointervalle ein. Es fühlt sich an, als wäre man umgeben von Walgesang im nachtschwarzen Ozean. Unberechenbar ist der nächste Moment dieser Musik für das Gehirn. Manchmal scheint Hohngelächter aus den Klängen zu brechen, dann wieder flirrt die Musik nahezu. Je länger das Stück dauert, desto klarer ist der Kopf imstande, die einzelnen Instrumente zu unterscheiden, desto deutlicher nimmt das Ohr das Piepen einer Armbanduhr irgendwo im Saal wahr.
Vor dem experimentellen Dunkelkonzert des Haas´schen Streichquartetts hatten Anna Clementi als Sprecherin, Sopranistin Maria Rosendorfsky und Antonis Anissegos (Klavier) und Jürgen Grözinger (Percussion) mit zu Klangstrukturen vertonter Lyrik der zeitgenössischen isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdottir und des 1965 verstorbenen französisch-amerikanischen Komponisten Edgar Varèse in die Thematik von Nacht, von Geheimnis und Abgrund geführt. Mit kristallklaren, ausgehaltenen Tönen wie die einer Harfensaite überzeugte Maria Rosendorfsky; Anna Clementi deklamierte dramatisch surrealistische Gedichte des 1945 kurz nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager Theresienstadt gestorbenen französischen Lyrikers Robert Desnos.