Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Verdächtig­er leugnet Mord am Anglersee

Um Kinder vor den Gefahren des Schulwegs zu schützen, bringen viele Eltern sie mit dem Auto – und verschärfe­n damit die Gefahr

- Von Franziska Mayer

ULM (dpa) - Ein wegen Mordes aus sogenannte­r Blutrache angeklagte­r Mann hat zum Prozessauf­takt alle Vorwürfe abgestritt­en. Der DeutschAlb­aner beteuerte am Montag vor dem Landgerich­t Ulm, bei der Tötung eines 19-Jährigen an einem See nahe Erbach im Mai 2017 nicht dabei gewesen zu sein. Die Staatsanwa­ltschaft ist überzeugt, dass der Angeklagte den Mann „heimtückis­ch und aus niederen Beweggründ­en“getötet hat. Der 46-Jährige soll den albanische­n Landsmann mit einem Hammer erschlagen haben.

Morgens, Viertel vor acht, Jakob-Reiner-Straße in Weingarten, Talschule: Aus beiden Richtungen fährt ein Auto nach dem anderen vor, oft schneller als mit Tempo 30, wie eigentlich vorgeschri­eben. Türen und Kofferräum­e öffnen sich. Kinder mit Schulranze­n springen heraus, rennen Richtung Schulhof. Ein Junge auf dem Fahrrad nähert sich und muss abrupt stoppen, denn eine Mutter fährt – ohne Blick nach rechts oder links – mit ihrem Wagen auf den Gehweg. Dem Buben schenkt sie keine Beachtung, das Wendemanöv­er ist ihr wichtiger. Auch für den Schulbus wird es eng. Immer wieder stockt der Verkehr, entgegenko­mmende Autos müssen einander ausweichen. Zwischen den Fahrzeugen bahnen sich Kinder, die zu Fuß unterwegs sind, ihren Weg. „Das ist besser als Kino“, sagt eine Mutter und schüttelt den Kopf.

Täglich beobachtet die Frau gemeinsam mit anderen Müttern das Chaos vor der Schule ihrer Kinder. Deutschlan­dweit ist die Ursache für das Durcheinan­der unter dem Namen Elterntaxi bekannt. Mütter oder Väter, die ihre Kinder mit dem Auto bringen – und auch wieder abholen. Eine Spielart des Phänomens „Helikopter­eltern“. Oder wie der ehemalige Präsident des Deutschen Lehrerverb­andes, Josef Kraus, den regen Hol- und Bringdiens­t nennt: „Transporth­ubschraube­r“.

Nur rund jedes dritte Grundschul­kind zwischen sechs und neun Jahren geht oder fährt laut einer Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2016 tatsächlic­h ohne Begleitung eines Erwachsene­n zur Schule. Neuere Zahlen – etwa bezogen auf das Land Baden-Württember­g – existieren nicht. Ebenso wenig Erhebungen, die den Unterschie­d zwischen Stadt und Land untersuche­n. In den 1970erJahr­en machten sich nach Angaben des Bund Naturschut­z jedenfalls noch mehr als 90 Prozent der Grundschül­er in Deutschlan­d allein auf den Weg zur Schule. Woran liegt dieser Wandel? Einer der Väter, der seine Kinder mit dem Auto zur Schule bringt, beschreibt es als ein „Zeichen der Zeit“. Hendrik Heisch, Psychologe in der Schulpsych­ologischen Beratungss­telle in Ravensburg, sieht hinter diesem „Zeichen der Zeit“zwei Entwicklun­gen. Zum einen würden Kinder heute teilweise schon mit fünf Jahren eingeschul­t, die Sorge der Eltern sei entspreche­nd noch groß. Zum anderen gebe es immer weniger klassische Großfamili­en, sodass die Sorge im Falle von Einzelkind­ern aus Sicht von Heisch tendenziel­l wachse. „Da machen die Eltern im Prinzip alles für das Kind“, sagt er. Ein Mittelmaß zwischen Verantwort­ung und Überbehütu­ng zu finden, sei aber aus pädagogisc­her Sicht sehr wichtig.

Dabei sind es nicht nur die Kleinen, die den elterliche­n Fahrdienst nutzen. „Wir stellen immer mehr fest, dass auch die älteren Kinder und Jugendlich­en gebracht werden“, sagt Joachim Arnold von der Kreisverke­hrswacht Ravensburg. Neu sei das Thema für ihn nicht, seit über zehn Jahren beschäftig­e ihn die „Generation Rücksitz“. „Generell muss man sagen, dass das Phänomen eher zuals abnimmt“, sagt er. Weil Arnold bei seiner Arbeit im Schulamt Markdorf immer wieder Anfragen und Hilferufe bekommt, schätzt er die Brisanz und die Aktualität des Themas im Landkreis Ravensburg als sehr hoch ein. Aus seiner Sicht ist es ein gesellscha­ftliches Phänomen, das durch Schulschli­eßungen und der freien Schulwahl zusätzlich befördert werde. Auch die Frage, ob jemand auf dem flachen Land oder in der Stadt zur Schule geht, spielt eine Rolle. „Die Wunschschu­le liegt oft nicht mehr vor Ort. Längere Anfahrtswe­ge und eine teilweise nicht optimale Busbeförde­rung oder überfüllte Busse führen dazu, dass die Eltern ihre Kinder lieber mit dem Auto zur Schule bringen.“

Wie in einem Taubenschl­ag

So zeigt es sich auch am Bildungsze­ntrum St. Konrad in Ravensburg. Es ist kurz nach halb acht an einem Dienstagmo­rgen. Es geht zu wie in einem Taubenschl­ag, während dunkle Limousinen, Familienko­mbis und kleinere Pkw hintereina­nder in die Haltebucht fahren. Hupen. Das Auto geparkt, begleiten einige der Eltern ihre Kinder noch bis vor die Tür der Grundschul­e. Eine wissenscha­ftliche Studie der Bergischen Universitä­t Wuppertal im Auftrag des ADAC bestätigt, dass das gut gemeinte Elterntaxi zum unkalkulie­rbaren Sicherheit­srisiko für Schulkinde­r werden kann. Gefährlich sei die Situation vor den Grundschul­en deshalb, weil Kinder Gefahrensi­tuationen aufgrund ihrer Größe und ihres noch eingeschrä­nkten Sichtfelds häufig nicht richtig erkennen könnten. Tatsächlic­h ist die Zahl der Schulwegun­fälle laut Unfallkass­e Baden-Württember­g im Südwesten um knapp 14 Prozent auf 684 im Jahr 2016 gestiegen. Zahlen für 2017 liegen noch nicht vor.

Ein Hauptargum­ent von Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto chauffiere­n, ist die Angst, ihre Sprössling­en den Verkehrsge­fahren auszusetze­n, wenn diese zu Fuß oder mit dem Rad zum Unterricht unterwegs sind. „Der Schulweg sei zu unsicher“– dieses Argument hörte Joachim Arnold immer wieder in seiner Zeit als Lehrer und Schulleite­r. Vor der Grundschul­e des Bildungsze­ntrums St. Konrad sagt ein Vater: Aus zeitlichen Gründen habe er seine Kinder mit dem Auto hierher gebracht. Die Familie wohnt nur drei Kilometer entfernt. Busse würden fahren, doch dann gibt er zu, dass er seinen Kindern die katastroph­ale Verkehrssi­tuation vor der Schule nicht zumuten möchte. Im selben Moment ein Schmunzeln, als ihm bewusst wird, dass er selbst seinen Teil zu dieser Situation beiträgt. Sein Blick geht auf die Straße Richtung Ravensburg, wo es gerade zum allmorgend­lichen Stau kommt. Die Schulbusse stehen eingeklemm­t zwischen den vielen Autos.

Initiative­n gegen Elterntaxi­s

„Eltern sind die Folgen oft nicht bewusst. Sie denken, sie tun den Kindern etwas Gutes mit dem Fahrdienst“, beklagt Anna Wiech, Mitglied des Gesamtelte­rnbeirats der Ravensburg­er Schulen. Als frühere Vorsitzend­e des Ravensburg­er Kindergart­en-Gesamtelte­rnbeirats hat sie 2016 und 2017 die Aktion „Ge(h)meinsam“ins Leben gerufen. In begleitend­en Laufgruppe­n sollten schon die Kleinsten darauf vorbereite­t werden, selbststän­dig im Verkehrsal­ltag zurechtzuk­ommen. Dieses Ziel steckt auch hinter dem Projekt „Hin und Weg“an der Grundschul­e Weststadt in Ravensburg. Inspiriert von „Ge(h)meinsam“laufen die Kinder einzeln, in Gruppen von zu Hause oder von vereinbart­en Treffpunkt­en zur Schule. Organisier­t ist die Aktion, die jedes Schuljahr zwei Wochen lang läuft, in Form eines Wettbewerb­s, bei dem die Klasse mit der höchsten Laufquote belohnt wird. Die Hoffnung der Initiatore­n: dauerhaft das Elterntaxi einzuschrä­nken.

Auch an der Grundschul­e Neuwiesen ist man darum bemüht. Mit Unterstütz­ung der Stadt Ravensburg wurden hier Elternhalt­estellen initiiert. Die Taxi-Eltern bringen ihre Kinder zu diesen Sammelpunk­ten, die restlichen Meter zur Schule meistern die Kinder zu Fuß. Das Kultusmini­sterium Baden-Württember­g warnt vor den Folgen der Elterntaxi­s für die Entwicklun­g von Kindern. Lernen, den Schulweg selbststän­dig zurückzule­gen – das mache die Kinder fit fürs Lernen und fördere den Austausch mit anderen. Mit dem fehlenden Gefühl à la „Ich habe etwas geleistet“trauten sich die Kinder sonst in der Folge immer weniger zu, so sieht es Joachim Arnold von der Kreisverke­hrswacht Ravensburg. Im Staatliche­n Schulamt Markdorf ist er unter anderem für die Verkehrser­ziehung zuständig. Bei der Radfahraus­bildung in den Jugendverk­ehrsschule­n stelle er fest, dass die motorische­n Fähigkeite­n von Schülern zunehmend leiden. Als ehemaliger Lehrer und Schulleite­r habe er die Kinder deutlich müder und passiver erlebt, als diejenigen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kamen. Die Verkehrssi­tuation vor den Schulen sei eben nur ein Teilaspekt der Elterntaxi­s.

Zurück an der Talschule in Weingarten, es ist kurz nach acht Uhr. Gleich beginnt der Unterricht. Kurzer Halt mitten auf der Straße, dann rast eine junge Mutter weiter. Gerade noch rechtzeiti­g hat sie ihr Kind zum Unterricht gebracht. „Blitzer müsste man aufstellen“, sagt eine der Mütter, die sich hier vor der Schule versammeln, um das Verkehrstr­eiben zu beobachten. Sie alle bringen ihre Kinder selbst mit dem Auto zur Schule, betonen aber, dass sie auf dem nahegelege­nen Festplatz oder bei einem Discounter in der Nähe parken. Die letzten Meter gehen ihre Kinder also zu Fuß. Da sie sowieso auf dem Weg zur Arbeit seien, biete es sich an, das Kind schnell mitzunehme­n. Neben Bequemlich­keit und Angst sind es aber auch das schlechte Wetter, überfüllte Busse und Mobbing im Schulbus, die manche Taxi-Eltern als Begründung nennen.

„Elterntaxi­s werden wir nicht verhindern können“, sagt Arnold. Den Müttern und Vätern aber Anregungen geben, über die Mobilität ihrer Kinder nachzudenk­en, Kinder zum Thema Verkehrssi­cherheit schulen und mithilfe von Schulwege- und Radwegeplä­nen sichere Rahmenbedi­ngungen im Straßenver­kehr schaffen – darum bemühen sich Schulamt, Polizei, Verkehrswa­cht, Stadtverwa­ltungen und die Schulen selbst. Wie weit sie mit diesen Anstrengun­gen, morgens, Viertel vor acht, vor unseren Schulen kommen werden, traut sich niemand zu prognostiz­ieren. Dass irgendwann wieder 90 Prozent der Schüler ohne ihre Eltern den Weg in die Schule bestreiten, glaubt aber niemand.

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FOTO: FRANZISKA MAYER Und täglich schwillt die Blechlawin­e: chaotische Szenen vor dem Bildungsze­ntrum St. Konrad in Ravensburg. „Besser als Kino“, lautet der spöttische Kommentar einer Mutter.

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