Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
440 000 Fachkräfte fehlen
Mangel kostet Wirtschaft jährlich 30 Milliarden Euro
DÜSSELDORF/BERLIN (AFP/her) Der Fachkräftemangel in Deutschland hemmt nach Einschätzung von Wirtschaftsexperten das Wachstum. Könnten deutsche Firmen diesen Mangel decken, „würde die Wirtschaftsleistung in Deutschland um bis zu 0,9 Prozent oder rund 30 Milliarden Euro höher ausfallen“, heißt es in einer am Montag veröffentlichten Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Demnach fehlten 2017 rund 440 000 Fachkräfte, eine Zahl, die seit Jahren stetig ansteigt. Im Jahr 2011 lagen die Fachkräfteengpässe noch bei gut 152 000 Stellen. Der Fachkräftemangel sei ein Grund für niedrige Unternehmensinvestitionen und überlastete Kapazitäten.
IW-Chef Michael Hüther forderte deshalb im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“: „Wir brauchen die Rente mit 70. Es muss auch eine gezielte Einwanderung geben, um den Bedarf nach Fachkräften des Arbeitsmarktes zu decken.“
FRANKFURT - Der Fachkräftemangel in der deutschen Wirtschaft wird allmählich zur Wachstumsbremse. Aktuell fehlten etwa 440 000 qualifizierte Arbeitskräfte, heißt es in einer aktuellen Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Diese Engpässe seien, das haben Umfragen bei Unternehmen ergeben, ein wichtiger Grund für niedrigere Investitionen und überlastete Kapazitäten. „Wenn deutsche Unternehmen diesen Fachkräftebedarf decken könnten, würde die Wirtschaftsleistung in Deutschland um bis zu 0,9 Prozent oder rund 30 Milliarden Euro höher ausfallen“, rechnen die Forscher des IW vor.
Der Studie liegen Daten der Bundesagentur für Arbeit zugrunde und die Annahme, dass den Arbeitsagenturen nur jede zweite offene Stelle gemeldet wird. Diese Zahl haben die IW-Forscher hochgerechnet, um die tatsächliche Nachfrage nach Arbeitskräften zu bestimmen. „Selbst wenn Firmen jeden passend qualifizierten Arbeitslosen in Deutschland einstellen würden, verblieben offene Stellen, die nicht adäquat besetzt werden könnten“, heißt es in der Studie. Das seien im vergangenen Jahr 440 000 gewesen, 2011 waren es lediglich 152 000. Mit einem ähnlichen Befund wartete jüngst der Deutsche Industrieund Handelskammertag (DIHK) auf, der in seinem Arbeitsmarktreport 24 000 Betriebe zu dem Thema befragt hatte: Die Interessenvertretung der deutschen Wirtschaft kommt dabei zu dem Schluss, dass inzwischen etwa 1,6 Millionen Stellen auf längere Sicht nicht besetzt werden können.
Ruf nach Einwanderungsgesetz
Um das Problem anzugehen, will die Bundesregierung vermehrt qualifizierte Fachkräfte nach Deutschland locken. Das begrüßt Michael Hüther, Direktor des IW: „In der laufenden Legislaturperiode muss ein entsprechendes Einwanderungsgesetz angestrebt werden“, sagt der Ökonom, denn eine qualifizierte Zuwanderung leiste einen Beitrag, die Fachkräfteengpässe zu bekämpfen.
Der Blick zurück zeigt, dass Deutschland ohne Zuwanderer schlechter dastünde. Nach Erhebungen des IW sei die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Bundesrepublik zwischen 2012 und 2017 um knapp 2,9 Millionen gestiegen – darunter waren fast 1,3 Millionen Ausländer. Von denen wiederum kamen knapp 890 000 aus der EU, der Rest aus Drittstaaten.
Der Bedarf an qualifizierten Beschäftigten nimmt jedoch weiter zu. Denn in den nächsten Jahren werden die geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1969 vermehrt in Rente gehen – das aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen EU-Ländern. Was wiederum bedeutet, dass Deutschland mehr Zuwanderer aus den sogenannten Drittstaaten anwerben muss. Aus der Flüchtlingszuwanderung der vergangenen Jahre ließen sich nur zu einem Teil die Fachkräfte gewinnen, die die deutsche Wirtschaft so dringend benötige, meint IW-Forscher Wido Geis.
Besonders prekär ist die Situation vor allem bei Informatikern, Technikern und Naturwissenschaftlern. Die müssten laut Geis gezielt angeworben werden. Doch dafür müssten zum einen die Kriterien für die Vergabe von Aufenthaltstiteln transparenter und besser nachvollziehbar gestaltet werden. Zur Zeit gebe es viele verschiedene Zugangswege für hochqualifizierte Erwerbstätige mit sehr unterschiedlichen Vergabekriterien – und die ließen große Interpretationsspielräume, sagt Geis. Deshalb wüssten weder interessierte Menschen aus dem Ausland noch die Unternehmen, wie sie damit umzugehen hätten.
Zum anderen sollten vor allem junge Menschen mit Grundqualifikationen gewonnen werden. Diese könnten an deutschen Universitäten ausgebildet und dann hier beschäftigt werden. Geis führte als Beispiel die rund 10 600 chinesischen Akademiker an, die 2014 in Deutschland gelebt haben. Diese seien zum Studium ins Land gekommen, hätten ihren Abschluss zwischen 2009 und 2014 gemacht und danach eine Anstellung gefunden.
Wachstum könnte stärker sein
IW-Chef Hüther rechnet trotz der lauter werdenden Klagen der Wirtschaft über den Fachkräftemangel für das laufende und das nächste Jahr mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um zwei Prozent. Grund dafür seien die gut gefüllten Auftragsbücher und die robuste Weltwirtschaft. Hüther zufolge könnte das Wachstum aber noch stärker sein.
Zudem lasse die Stimmung langsam nach. Es gebe verschiedene Risikofaktoren, die jeder für sich das Potenzial für eine Wirtschaftskrise hätten – angefangen von China und seiner hohen Verschuldung bis hin zum Brexit, der mit Kollateralschäden verbunden sein werde. „Aufgabe der Politik wäre es jetzt, den Wachstumsprozess zu stabilisieren“, sagt Hüther. Es müsse endlich mehr in die Infrastruktur investiert und das Freihandelsabkommen Ceta verabschiedet werden. Das wäre ein wichtiges Signal.