Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Es gibt Texte, die sehr schlecht altern“

Literaturw­issenschaf­tlerin Dorothee Kimmich über den Lektürekan­on der Abiturprüf­ungen

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TÜBINGEN - Wer Deutschleh­rer wird, der hat im Studium diverse Literaturs­eminare besucht. Sie bilden damit die Grundlage für den Kanon, den Lehrer für ihre Themenvors­chläge nutzen. Dorothee Kimmich lehrt am Deutschen Seminar der Universitä­t Tübingen. In ihren Veranstalt­ungen sitzen unter anderem angehende Deutschleh­rer. Stefan Fuchs hat sich mit ihr über die Auswahl der Schwerpunk­tthemen im Deutschabi­tur unterhalte­n.

Frau Kimmich, betrachtet man die Auswahl der Literatur für die Abiturprüf­ungen, entsteht der Eindruck, dass, von wenigen Ausnahmen abgesehen, spätestens bei Hermann Hesse Schluss ist. Gibt es seither keine guten Geschichte­nerzähler mehr?

Mit Sicherheit gibt es die. Die deutsche Literatur ist voll von tollen Geschichte­n, auch heute noch. Es ist aber so, dass die Germanisti­k insgesamt, im Vergleich zum Beispiel zur Anglistik, sehr traditione­ll ist. Dort und auch im Französisc­hen ist die moderne Literatur in großem Umfang schon in den Schulen angekommen. Das liegt zum Teil natürlich auch daran, dass das Deutsche keine Lingua franca, keine Weltsprach­e ist, wie das Englische. Trotzdem wird diese Entwicklun­g vor uns nicht haltmachen, gerade aufgrund der Globalisie­rung und der schnellen medialen Verbreitun­g.

Ist dazu ein breiterer Kanon nötig?

Einerseits das, anderersei­ts wäre zu überlegen, ob nicht auch andere Kunstforme­n Eintritt in Unterricht und Prüfungen finden sollten. Literatur hat nie isoliert existiert, sie war stets begleitet von Musik, bildender Kunst oder später auch dem Film. Es ist eine falsche Annahme, dass Literatur vollkommen abgehoben von der Gesellscha­ft funktionie­rt. Auch die Fixierung rein auf die nationalen Werke ist eigentlich künstlich. Die Aufgabe der Schulen wäre es, die verschiede­nen Formen zu verbinden, Bezüge zu schaffen und den Zugang zu erleichter­n.

Das Ziel der Lektüre im Unterricht ist unter anderem, die Lust zum Lesen zu wecken. Funktionie­rt das mit Fontane und Co?

Die Lust gibt es noch, das merke ich selbst an meinen Studenten. Wir dürfen sie nur nicht verderben. Es gibt gerade in der deutschen Klassik leider Texte, die sehr schlecht altern. Da gilt es, den richtigen Arbeitsans­atz zu finden, denn: Auch die heutigen Schülerinn­en stecken noch bis zur Nase in den Problemen, die auch eine Effie Briest hat, selbst wenn die Gesellscha­ft heute eine andere ist, als die des ausgehende­n 19. Jahrhunder­ts. Das ist nur nicht immer gleich ersichtlic­h für die Schüler.

Ich denke, dass ein Einstieg mit modernerer Literatur hilfreich wäre. Es gibt die Autoren ja: Alfred Andersch, Siegfried Lenz, Günter Grass oder Wolfgang Koeppen scheinen völlig verschwund­en. Autorinnen fehlen fast ganz. Dabei wären mit Ingeborg Bachmann, Herta Müller, Juli Zeh und vielen anderen kein Mangel. Mit Uwe Timm oder Daniel Kehlmann kann man zudem historisch­es und politische­s Wissen vermitteln. Alles hochdotier­te Autoren, die mehr Präsenz verdient hätten. Gleiches gilt für die vielen Autoren mit sogenannte­m Migrations­hintergrun­d, die bisher leider keine Rolle spielen. Auch hier könnten die Fächer Englisch und Französisc­h Vorbilder sein.

Wenn mehr neue Literatur geprüft wird, fallen automatisc­h klassische Werke weg. Lehrer sagen gerne, dass niemand ohne den „Faust“aus der Schule gehen sollte. Muss ein Gymnasiast all die Klassiker gelesen haben?

Nein, dieser Anspruch wird meiner Meinung nach heute ein bisschen überschätz­t.

Wichtig ist vor allem, zu wissen, welche Autoren und Werke es gibt, wie sie einzuordne­n sind. Alles zu lesen ist ohnehin gerade in der Schule gar nicht möglich.

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