Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„In einer Welt ohne Melancholi­e würde die Nachtigall nur noch rülpsen“

Großer Beifall für Kabarettis­t Jess Jochimsen im Rössle in Laichingen – Publikum ist begeistert - Veranstalt­ung der Volkshochs­chule

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LAICHINGEN (sz) - „Sie haben es verdient, dass wir uns zusammen einen schönen Abend machen.“Kabarettis­t Jess Jochimsen (48) war am Freitagabe­nd mit seinem neuen Programm „Heute wegen gestern geschlosse­n“zu Gast im schönen, fast ausverkauf­ten Rössle-Saal in Laichingen.

Die Szene ganz schlicht, fast ohne Requisiten: Er im schwarzen Anzug, vor gelbem Rössle-Vorhang, lediglich noch ein Stehtisch, ein Barhocker, ein Akkordeon und eine Gitarre auf der Bühne. Dass er zu den Großen des deutschen Kabaretts gehört, bewies er an diesem Abend: geistreich, klug, ein brillanter Um-die-Ecke-Denker, feinsinnig, einer, der genau hinhört und hinsieht. Dies demonstrie­rt er an auf die Leinwand projiziert­en Fotoreihen; Fotos, die eigentlich nur im Alltag entdeckte, skurrile und höchst witzigen Schilder, Wegweiser oder Markierung­en abbilden.

Jochimsen hat bei seiner Tour unter anderem Auftritte bei der Münchner Lach-und Schießgese­llschaft, im Stuttgarte­r Theaterhau­s, in Zürich, Bern und Wien – und zwischendr­in eben in Laichingen. Eingeladen wurde er von der Volkshochs­chule, es ist sein dritter Auftritt hier. Seit er in der Region in einem Hotel („ausnahmswe­ise ohne Tiernamen“) untergebra­cht war, in dem er das Hinweissch­ild „Die Sauna ist geschlosse­n wegen einer goldenen Hochzeit“entdeckte, vermutet er „Lebensfreu­de“in dieser Region. Jess Jochimsen hat jungen, spitzbübis­chen Charme und erzählt erstmal Episoden und Wahrnehmun­gen aus seinem Alltag. Beispielsw­eise von den „ungeplante­n Abenden vor den großen Familienun­d Wiedersehe­nsfesten“, die so viel besser seien als das eigentlich­e Fest.

Offen, verletzlic­h, ehrlich

Er wirkt offen, verletzlic­h, ehrlich, sprachsens­ibel – das Publikum mucksmäusc­hen still, aufmerksam – und guter Dinge, direkt dankbar für die vielen geistreich­en Pointen. Beispielsw­eise: Wieso kommt in den Nachrichte­n nie ein Täterprofi­l vor wie etwa „oberfränki­scher Protestant mit österreich­ischem Migrations­hintergrun­d?“Oder: „Was kommt heraus, wenn man einen Atheisten mit einem Zeugen Jehovas kreuzt?“Die Antwort: „Einer, der ohne Grund reihenweis­e klingelt...“Und wieso werden Intellektu­elle bei Interviews im TV immer vor ihrem Bücherrega­l gefilmt und nie vor dem Geschirrbe­rg in der Küche?

Politisch wird’s, wenn’s um Asylanten und „die German Angst“geht. Nur eine Million Asylsuchen­de unter 80 Millionen: „Ein einziger Besucher“im Rössle-Saal (der ganz bestimmte, in der ersten Reihe) bringe all die übrigen durcheinan­der? Jochimsen beschreibt, dass wir in der „zu“-Zeit leben: „zu viel Chaos, zu viel Krieg, zu viel Kultur – zu unübersich­tlich im Kleinen wie im Großen“, einer Zeit, in der Plattitüde­n unhinterfr­agt weitergetr­agen werden, wie etwa die Legende „von der Silvestern­acht in Köln“. Und er äußert sein Unbehagen darüber, wie schnell sich in Deutschlan­d „das Sprechen und das Denken – in dieser Reihenfolg­e“– änderte.

Keiner, der vor sich hin doziert

Die Dramaturgi­e seines Solo-Programms ist genial, der Spannungsb­ogen wird gehalten: Er spielt meisterhaf­t Akkordeon, das Publikum ist höchst präsent. Da steht keiner, der nur vor sich hin doziert.

Stoff liefern ihm die täglichen Nachrichte­n, er hinterfrag­t die simplen Erklärunge­n: Sollen aufgrund der Amokläufe tatsächlic­h Lehrer bewaffnet werden? Wie umgehen mit „goldenen amerikanis­chen Präsidente­nsätzen“wie etwa „Die Mehrzahl der amerikanis­chen Importe kommt aus dem Ausland“? Nach der Pause gibt er, für die „mitgekomme­nen“Männer die Fußballerg­ebnisse bekannt und demonstrie­rt, dass er „einfache Lieder“auch meisterlic­h mit der Gitarre begleitet.

Jess Jochimsen sensibilis­iert für Sprache und Bilder: „Es gibt keine Untaten, ohne dass Unsprache vorausgeht.“Wieso werden immer marode Straßen und Brücken gezeigt, um zu demonstrie­ren, dass „die Belastungs­grenze erreicht“sei? Wieso darf ein 76-jähriger Greis am Wahlabend in die Mikrofone proleten „Wir werden sie jagen, wir werden uns unser Land zurückhole­n“?

Er besinnt sich auf seinen Geschichts­lehrer, der einschärft­e, dass die Weimarer Republik gescheiter­t sei nicht wegen ihrer Feinde, sondern wegen „zu wenigen Freunden“: Wenn „grün-liberale Studienrät­e“plötzlich sagen „Ich bin kein Rassist, aber...“sei Vorsicht geboten. Das sei der Geist der „alten Männer“, die sich fürchten vor jeder Veränderun­g – jedoch: „Die Zeit der drei Programme mit Sendeschlu­ss ist vorbei.“Hervorrage­nd der Dialog zwischen „grün-liberalem“(eben typisch Freiburger) Vater und Tochter mit muslimisch­em Freund.

Sein Fazit: Wir dürfen nicht aufhören, Fragen zu stellen und zugleich „zu feiern, als ob es ein Morgen gäbe“– ein großartige­s Plädoyer für Sprachsens­ibilität: „In einer Welt ohne Melancholi­e würde die Nachtigall nur noch rülpsen.“

Das Publikum belohnt mit viel Beifall, durchweg begeistert.

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FOTO: BRÜCK Kabarettis­t Jess Jochimsen unterhielt prächtig am Freitagabe­nd im Rössle.

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