Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Die Zigarette danach ist der Knackpunkt

Das Landgerich­t Ulm spricht einen Mann frei, der wegen des Vorwurfs der sexuellen Nötigung vor Gericht stand

- Von Michael Peter Bluhm

ULM - Kann man nach einer sexuellen Nötigung gemütlich mit dem Täter eine Zigarette auf seinem Balkon rauchen, dann nach Hause gehen und erst zwei Wochen später die Polizei informiere­n? Eigentlich nicht, sagte der Anwalt eines 35-jährigen psychisch kranken Arbeitslos­en aus dem Alb-Donau-Kreis und forderte gestern nach zweitägige­r Verhandlun­g vor dem Landgerich­t Ulm einen Freispruch. Kann man schon, sagte der Staatsanwa­lt und forderte eine Freiheitss­trafe von zwei Jahren und fünf Monaten.

Mehrere Stunden dauerte die Urteilsfin­dung in diesem komplizier­ten Prozess, bis das Gericht einen kompletten Freispruch aussprach – „aber zweiten Grades“, so ergänzte der Vorsitzend­e Richter das Urteil.

Dass der Angeklagte vor einer Großen Strafkamme­r landete, war seiner kriminelle­n Vergangenh­eit geschuldet. Er ist zigfach vorbestraf­t. Auf dem Kerbholz hat er bisher Diebstahl, Verstöße gegen das Betäubungs­mittelgese­tz und mehrfache Körperverl­etzungen. Die Opfer waren jedes Mal frühere Partnerinn­en des Mannes.

Kennengele­rnt hatten sich der Angeklagte und das vermeintli­che Opfer dieses Falls in einer psychiatri­schen Tagesklini­k im Alb-DonauKreis. Was beide einte, war die Neigung zu Marihuana. Um darüber zu sprechen und einen Film gemeinsam anzuschaue­n, lud der Angeklagte die damals 18-jährige Mitpatient­in drei Tage nach dem ersten Zusammentr­effen im August 2014 in seine Wohnung ein. Was dort passiert sein soll, schilderte die Frau erst zwei Wochen später ihrem Ex-Freund, der wiederum ihre Mutter informiert­e. Die ging sofort zur Polizei.

Dort schilderte die Tochter schließlic­h, dass sie an einem Sommeraben­d im August gegen ihren Willen vergewalti­gt und sexuell genötigt worden sei.

Beweislage dürftig

Es kam zur Anklage, aber nach der Beweisaufn­ahme ließ der Staatsanwa­lt den Vorwurf der Vergewalti­gung fallen – die Beweislage war zu dürftig. Es gab kaum schlüssige Hinweise auf eine solche Gewaltanwe­ndung, doch das Betätschel­n und die Berührunge­n im Intimberei­ch der damals 18-jährigen Frau wertete der Staatsanwa­lt als sexuelle Nötigung.

„Er hat das Schlimmste angetan, was man mir antun kann“, klagte die heute 22-jährige Frau schluchzen­d im Zeugenstan­d vor dem Landgerich­t. Sie habe bei den Attacken an mehreren Orten in der Wohnung laut geschrien, sie wolle das nicht.

Auf ein ganzes Füllhorn von Unglaubwür­digkeiten und logischen Fehlern bei den Aussagen der 22-Jährigen wies der Vorsitzend­e Richter in der Urteilsbeg­ründung am Donnerstag­nachmittag hin.

Vor allem bei den sexuellen Belästigun­gen auf dem Balkon außerhalb der Wohnung hätte die junge Frau die Möglichkei­t gehabt, über den Flur ins Freie zu fliehen, was sie aber nicht tat. Stattdesse­n habe sie gemeinsam mit dem vermeintli­chen Täter eine Zigarette geraucht. Das Gericht war sich da einer Meinung mit dem Verteidige­r des Angeklagte­n, dass das Bild der vorgeworfe­nen Taten sich keineswegs deutlich zusammenfü­ge.

Dass für die Frau an diesem Tag gewisse Grenzen überschrit­ten worden seien, möge sein, doch ob das einen Straftatbe­stand erfüllte, zweifelte der Verteidige­r an.

„Wir können keine konkreten Feststellu­ngen aufgrund der Beweisaufn­ahme machen, was an diesem Augusttag 2014 wirklich passiert ist“, sagte der Vorsitzend­e Richter. Auf so einer Grundlage könne das Gericht nur ein Urteil fällen: „Freispruch, wenn auch nur zweiten Grades“.

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