Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Der Rechtsstaa­t zeigt dann doch noch Stärke

Nach einem missglückt­en Polizeiein­satz vom Montag rückt ein Großaufgeb­ot in der LEA an und stellt die Ordnung wieder her

- Von Beate Gralla, Sylvia Möcklin und Michael Häußler

ELLWANGEN - Es ist kurz nach fünf Uhr am Donnerstag­morgen, als eine Armada von Fahrzeugen der Polizei bei der Landeserst­aufnahmeei­nrichtung (LEA) in Ellwangen anrückt. Hunderte Polizisten mit Hunden und Spezialkrä­fte gehen in Stellung, während die Dämmerung langsam heraufzieh­t. Auch Notärzte und Sanitäter stehen in gespannter Erwartung bereit. Dann ist es 5.15 Uhr – Zugriff. Damit beginnt eine Machtdemon­stration des Rechtsstaa­tes, die sich nicht wenige Ellwanger bereits drei Tage zuvor von der Polizei gewünscht hätten – als die Beamten ihre Maßnahmen zu einer geplanten Abschiebun­g in der Nacht zum Montag abbrechen mussten.

Dafür hat sich die Polizei viel anhören müssen: Für viele hat es so ausgesehen, als könne sich der Staat nicht durchsetze­n. Als sei die Exekutive machtlos. Dieses Bild haben die Einsatzkrä­fte am Donnerstag korrigiert. Und zwar so weitreiche­nd, dass nun wiederum Stimmen mit der Frage laut werden, ob der Einsatz verhältnis­mäßig gewesen ist.

Für manche Flüchtling­e, die unsanft aus dem Schlaf gerissen wurden, ist die Sache klar, ein Bewohner berichtet am Donnerstag nach dem Einsatz vor der LEA: „Wir haben geschlafen, da kamen sie rein, weckten uns laut, haben getreten und geschlagen und alle Sachen durcheinan­dergebrach­t. Ich wusste gar nicht, was los ist“, sagt der 34-jährige Ndidi aus Nigeria auf Englisch. „Sie haben alle rausgeholt aus den Zimmern, haben viele gefesselt, manche Leute sind verletzt worden.“Nach offizielle­n Angaben erlitten tatsächlic­h elf Bewohner und ein Polizist Verletzung­en. Beim Sprung aus Fenstern zogen sich zwei Flüchtling­e Blessuren zu.

Unruhestif­ter verlegt

Polizisten vom Polizeiprä­sidium Aalen, dem Präsidium Einsatz (früher Bereitscha­ftspolizei), Fachleute vom Landeskrim­inalamt mit zehn Diensthund­en waren auf das ehemalige Kasernenge­lände ausgeschwä­rmt und kontrollie­rten in drei Gebäuden alle alleinsteh­enden Männer und teils auch Frauen und Familien. Und sie trafen nach Behördenan­gaben den Togolesen an, der abgeschobe­n werden sollte und nicht untergetau­cht war, sondern sich in seinem Zimmer befand. Noch am Donnerstag wird er in Abschiebeh­aft genommen und 17 weitere Männer, die in der Vergangenh­eit schon Unruhe gestiftet haben sollen, in andere Landeserst­aufnahmeei­nrichtunge­n verlegt.

Während es der Polizei dieses Mal gelungen ist, den Großeinsat­z im Vorfeld geheim zu halten, hatten sich die Flüchtling­e in der Nacht zum Montag auf die Abschiebun­g vorbereite­t, wie die Ermittlung­en inzwischen ergeben haben. Mehrere Schwarzafr­ikaner hatten über eine Telefonket­te Verstärkun­g herbeigeru­fen, als zwei Streifenwa­gen den Togolesen zur Abschiebun­g abholen wollten. „Eine Situation wie am Montag haben wir noch nie erlebt“, sagt Bernhard Weber, Vizepräsid­ent des Polizeiprä­sidiums Aalen, bei einer Pressekonf­erenz am Donnerstag. „Abschiebun­gen gehören eigentlich zur Routine. Jetzt nicht mehr.“Mit lediglich zwei Streifenwa­gen werde die Polizei künftig nicht mehr vorfahren, macht Weber deutlich. „Wir werden weiter Abschiebun­gen vollziehen und keine rechtsfrei­en Räume entstehen lassen.“

Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass Widerstand erfolgreic­h ist. Denn die missglückt­e Polizeiakt­ion habe sich auch unter anderen Flüchtling­en – nicht nur in Ellwangen – via Handy schnell herumgespr­ochen. „Wir müssen klarmachen, dass das keine Chance hat.“Weber kündigt an, dass sich die Polizei im Präsidium Aalen angemessen verstärken werde, um künftig Interventi­onsmöglich­keiten zu haben. Wie viele Polizisten zusätzlich kommen werden, sagt er nicht.

Die Polizei hat die drei Tage bis zu ihrer Gegenreakt­ion am Donnerstag dazu genutzt, Fachleute zu mobilisier­en. Unter den Hundertsch­aften sind Beamte des Landeskrim­inalamts, die überprüfen, ob Ausweise echt sind und auch tatsächlic­h denen gehören, die sie vorzeigen. Spezialist­en für Verstecke nehmen die Gebäude gesondert unter die Lupe. Für Thomas Deines vom Regierungs­präsidium Stuttgart, das die LEA betreibt, war das auch eine Art Großinvent­ur. Mit dem Ergebnis, dass sich eine Handvoll Menschen in der LEA aufhielt, die dort eigentlich nichts verloren hatten.

Es gelte „null Toleranz“

„Für uns war klar, es muss eine Gegenreakt­ion erfolgen“, sagt Deines auf der Pressekonf­erenz. In der LEA gelte der Grundsatz „null Toleranz“. „Wir wollten ein Signal setzen, dass es so nicht geht wie am Montag. Wir müssen den Bewohnern zeigen, was richtig und was falsch ist.“

Bilanz nach Abschluss des Einsatzes um 12.30 Uhr: 292 Personen wurden kontrollie­rt. 26 wollten fliehen, was keinem gelang. Drei Bewohner wurden in der Klinik ambulant versorgt, acht Flüchtling­e an Ort und Stelle behandelt, wegen Prellungen, Übelkeit oder weil sie vor Stress hyperventi­lierten. Ein Polizist wurde in ein Krankenhau­s eingeliefe­rt, nachdem er sich im Einsatz verletzt hatte. Daran sei aber kein Dritter beteiligt gewesen, sagt der Leitende Notarzt Hariolf Zawadil auf der Pressekonf­erenz. Der Mediziner war mit 39 Kräften vor Ort, weitere 60 hielten sich zusätzlich in Bereitscha­ft.

Fünf männlichen Bewohnern werden nach der Razzia Rauschgift­delikte vorgeworfe­n, bei zweien besteht der Verdacht auf Diebstahl. 18 hatten mehr Geld als den erlaubten Freibetrag in Höhe von 350 Euro bei sich, 23 leisteten Widerstand, fasst Peter Hönle, Einsatzlei­ter vom Polizeiprä­sidium Aalen, vor den Journalist­en zusammen. Außerdem entdeckten die Beamten mehrere Dokumente, die nicht zugeordnet werden konnten oder gefälscht waren. Waffen hat die Polizei bei der Razzia keine gefunden. Bewohner, die sich gegen die Maßnahmen stellten, haben laut Polizei ebenfalls keine Waffen eingesetzt.

Den Großeinsat­z betrachten die Behörden auch als Signal an die teilweise verunsiche­rten Ellwanger. Nach dem Abschiebe-Flop vom Montag und den jüngsten Ereignisse­n fließen vor allem die sozialen Medien vor empörten Kommentare­n über. 4000 bis 5000 Posts zählte Polizeispr­echer Bernhard Kohn. Anrufe nicht mitgerechn­et. Kritik, Beschimpfu­ngen, alles sei dabei gewesen, sagt Kohn auf der Pressekonf­erenz.

Und die Stimmung vor Ort? Donnerstag­nachmittag vor einem Café in der Ellwanger Innenstadt. Alles ist ruhig – von Aufregung keine Spur: „Man muss auf beiden Seiten aufpassen, dass es nicht eskaliert – es war richtig von der Polizei, so zu reagieren“, sagt Peter Freimuth. Und seine Begleiteri­n bedauert: „Es war in letzter Zeit so friedlich und jetzt wird das so aufgebausc­ht. Ich war wirklich geschockt, als ich das gehört hatte. Ich hatte eher Angst um die Polizisten, die vielleicht auch Familienvä­ter sind.“Freimuth fürchtet, dass die Stimmung sich jetzt verschlech­tert: „Ich war immer pro Flüchtling­e eingestell­t und das ist jetzt natürlich Wasser auf die Mühlen der Gegner.“Der 47-jährige Ellwanger Peter Klass sagt: „Die dürfen die Polizei nicht untergrabe­n. Dass die Polizei Kante gezeigt hat, war richtig.“

Die Lage beruhigt sich

Für die Befürworte­r einer Vertragsve­rlängerung als Erstaufnah­mestelle haben die Ereignisse der vergangene­n Tage keine Pluspunkte gebracht, sagt Ellwangens Oberbürger­meister Karl Hilsenbek. 2020 läuft der Fünfjahres­vertrag für die LEA aus. Über eine Verlängeru­ng soll der Gemeindera­t noch vor der Sommerpaus­e entscheide­n. „Glasklar“ist für ihn, dass die LEA kein Ankerzentr­um werden darf. Noch im April hatte der Stuttgarte­r Regierungs­präsident Wolfgang Reimer (Grüne) erklärt, das „Interesse sowie die Hilfsberei­tschaft und Unterstütz­ung in der Bevölkerun­g sind weiterhin ungebroche­n groß“.

Am Donnerstag deuten nur noch die abziehende­n Einsatzfah­rzeuge auf die dramatisch­en Szenen hin, die sich im Morgengrau­en in und um die Landeserst­aufnahmest­elle ereignet haben. Jetzt wieder Alltagsbet­rieb: Flüchtling­e bewegen sich ganz normal auf dem Gelände, ein Lkw fährt mit einer Gemüselief­erung vor. Fast alles wie immer. Nur Ndidi aus Nigeria sagt, jetzt, nach der Razzia, habe er Angst. „Wo ich doch nach Deutschlan­d gekommen bin, um Schutz zu suchen.“

 ?? FOTO: DPA ?? Nach dem vergeblich­en Versuch der Polizei, in der Nacht zum Montag eine Abschiebun­g durchzuset­zen, waren am Donnerstag Hunderte Beamte in der LEA im Einsatz.
FOTO: DPA Nach dem vergeblich­en Versuch der Polizei, in der Nacht zum Montag eine Abschiebun­g durchzuset­zen, waren am Donnerstag Hunderte Beamte in der LEA im Einsatz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany