Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Brunetti, der Siebenundzwanzigste
Donna Leon führt ihren Kommissar in Versuchung
ZÜRICH (dpa) - Dieser Brunetti ist anders – und doch in der Tradition der bisherigen. Donna Leon hat den 27. Fall ihres venezianischen Commissario mit dem Titel „Heimliche Versuchung“einmal mehr in das politische Umfeld des heutigen Italien eingebettet, dabei aber eine sophokleische Frage zur Romangrundlage erhoben: Darf man im Interesse des Guten gegen bestehende Gesetze verstoßen? Guido Brunetti sucht Entspannung von Arbeit und Alltag in der Lektüre von „Antigone“von Sophokles. Er findet sie, obgleich er nicht verhindern kann, dass der hier dramatisch zugespitzte klassische Konflikt zwischen Recht und richtig in sein Tagesgeschäft einzieht und auch ihn in Versuchung bringt.
Dabei fing alles eher ruhig an. Ruhig bedeutet nicht harmlos. Für Brunetti sind die Sorgen von Professoressa Crosera keineswegs harmlos, denkt er dabei doch sofort an seine eigenen Kinder. Die Kollegin seiner Frau Paola befürchtet, dass ihr Sohn Drogen nimmt – in der Schule. Aber er weiß auch, dass der Handel damit durch Polizeieinsatz kaum zu unterbinden ist, denn ins Netz geraten meist nur kleine Fische. Die großen schwimmen munter weiter und erobern neue Gründe. Dennoch verspricht er, sich an der Schule umzutun.
Kurz nach dem Treffen mit der Dozentin wird der Commissario nachts aus dem Bett geklingelt. Kollegin Griffoni braucht seine Hilfe. Sie wartet im Krankenhaus auf ihn, wo ein Mann eingeliefert wurde, der mit schweren Verletzungen nach einem Treppensturz auf einer Brücke im Koma liegt. Obwohl vieles auf einen Unfall hindeutet, schließen die beiden Polizisten nicht aus, dass der Mann gestoßen wurde. Wie der Zufall es will, erkennt Brunetti in dem Verunglückten Croseras Ehemann wieder, Tullio Gasparini. Der Gedanke an einen Zusammenhang mit dem Drogenhandel liegt nahe, doch wie ihn beweisen?
In „Heimliche Versuchung“ist die Verlockung, etwas Gesetzloses zu tun oder zumindest haarscharf am Gesetz vorbei zu handeln, gleich für mehrere Menschen präsent. Dabei unterscheidet die amerikanische Autorin allerdings genau, ob die Motivation dafür aus persönlicher Habgier, menschlicher Schwäche oder einer humanen Erwägung entspringt. Nur beantworten wird sie die Frage nach der Recht- oder Unrechtmäßigkeit eines Vergehens nicht. Genauso wenig wie Sophokles, der seine Antigone zwar handeln lässt, weil sie dem Gebot der Menschlichkeit folgt, damit aber Gesetze bricht, was geahndet wird.
Unterhaltung mit Niveau
Ja, der neue Brunetti ist anders. Nicht nur, weil es hier nicht um bluttriefende Kriminalität, sondern um das reale Verhalten von Menschen geht. Mehr denn je bringt Leon ihre philologischen Kenntnisse ein, wirft philosophische Fragen auf und lässt Brunetti ihr Sprachrohr für gesellschaftspolitische Kritik sein. Für Liebhaber der Brunetti-Romane sei noch angemerkt, dass alle Bekannten aus der Reihe auch dieses Mal wieder zum Zuge kommen und sogar einiges Neues von sich preisgeben, wie beispielsweise Claudia Griffoni. Nicht zuletzt lässt die 75-Jährige ihre Leser auch wieder am meist harmonischen Leben im Hause Brunetti teilhaben. Und das so unterhaltsam wie eh und je.