Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Gottseidank habt ihr diesen Kanzler!“
SZ-Serie zu den Revolten von 1968 – Gabriele Reulen-Surek über ihre Erlebnisse, Teil II
LAICHINGEN (sz) - Gabriele ReulenSurek aus Laichingen, Mitarbeiterin der „Schwäbischen Zeitung“, hat die Studentenbewegung von 1968 und in den Jahren danach miterlebt: zunächst in Tübingen und ab 1970 in Westberlin. Hier schildert sie ihre Erlebnisse in Berlin:
Im Jahr 1970 zieht es mich von Tübingen nach Berlin. Der Kalte Krieg wirft immer noch und gerade in dieser geteilten Stadt seine Schatten. Ostberlin nennt sich „Berlin – Hauptstadt der DDR“, „Westberlin“darf man als angehender Beamter so nicht in einem Wort schreiben, weil die DDR das so macht. „Berlin(West)“ist die offizielle Schreibweise. Wir Studenten halten uns nicht daran, für uns heißen die Teile „Ostberlin“– das wiederum darf man dort nicht laut sagen – und „Westberlin“.
Die große Stadt beeindruckt mich mächtig, und ich bin froh, dass der Campus der Freien Universität im Grünen liegt. Es ist eine Zeit des Umbruchs. Die Universität hat einen Präsidenten bekommen, der nicht mehr Professor ist, wie vorher der Rektor. Als Rolf Kreibich 1969 zum ersten Präsidenten der Freien Universität gewählt wurde, war dies eine hochschulpolitische Sensation: Zum ersten Mal leitet nun ein Assistent eine deutsche Universität. Trotzdem ist die Atmosphäre aufgeheizt. Vielen Studenten erscheint er zu kompromisslerisch, und manche meinen gar, „die Revolution“stünde vor der Tür.
Im Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft (OSI) werden derlei Diskussionen zunächst noch nicht geführt. Die ersten sogenannten „K-Gruppen“und „Roten Zellen“werden eher kritisch beäugt. Hier wird erst mal alles gründlich analysiert. 1970 wird hier für eine Professorenstelle für den Assistenten Elmar Altvater aus Erlangen gekämpft, der anerkannter Marxist ist. Als Elmar Altvater wirklich Professor für politische Ökonomie am OSI wird, merken wir sehr schnell, dass eine marxistische Analyse der Gesellschaft nicht so einfach mit ein paar Schlagworten zu leisten ist. Altvater setzt in seinen Seminaren das Wissen der Theorien von Adam Smith und David Ricardo voraus, die von Marx gewürdigt und weiterentwickelt wurden.
Das, was ihn auszeichnet und glaubwürdig macht, ist, dass er uns Studierende zu kompetenten Analytikern macht. Seine Analysen zum Weltmarkt, zur Rolle von Finanzmärkten und zu globalen Abhängigkeiten in den siebziger und achtziger Jahren sind seiner Zeit weit voraus. Dogmatische Haltungen lehnt er ab, jedes Problem wird von allen Seiten beleuchtet. Dass bei solch einer Grundhaltung auch für uns OSI-Studenten alles maoistisch und sektiererisch ausgerichtete Denken keine Chance hat, erschließt sich daraus. Während ich diese Zeilen schreibe, erfahre ich, dass Altvater am 1. Mai 2018 verstorben ist. Medien würdigen ihn als einen starken analytischen Geist, was meine Erinnerungen bestätigt.
„Frontstadt-Atmosphäre“
Zurück zu Berlin: Um uns herum blüht in vielen Instituten das Entstehen von kommunistischen Splittergruppen. Der Ton untereinander ist schärfer, als ich es von Tübingen gewohnt bin. Und auch die Haltung der Bevölkerung gegenüber den demonstrierenden Studenten ist zum Teil richtig von Hass erfüllt. Wenn gegen den Vietnamkrieg der USA protestiert wird, hören die Demonstrierenden häufig den Ruf: „Geht doch rüber in den Osten!“Dabei sind uns die Unterdrückungsmaßnahmen in der DDR ebenso ein Dorn im Auge. Durch diese „Frontstadt-Atmosphäre“kommt es dazu, dass viele Studierende sich als die Einzigen fühlen, die den Durchblick haben. Immer wieder ist zu entdecken, dass Ereignisse verschleiert oder in der Presse falsch dargestellt werde. Auch ist die Polizei bei ihren Einsätzen gegenüber Demonstranten häufig nicht zimperlich. Andererseits werden immer häufiger Steine von Demonstranten geworfen, manche aus Empörung, viele aber auch aus reiner Provokation.
Der Anfang der RAF
Ein weiteres einschneidendes Ereignis fordert uns heraus: Am 14. Mai 1970 wird bei einem Befreiungsversuch Andreas Baders, an dem auch Ulrike Meinhof beteiligt ist, ein Institutsangestellter durch einen Schuss schwer verletzt. Die Polizei sucht sofort mit Fahndungsplakaten nach Ulrike Meinhof und Andreas Bader. Viele Studenten können das zunächst nicht glauben und halten es wieder einmal für „Fake News“. Aber es stellt sich heraus, dass dies erst der Anfang vieler krimineller Aktionen der RAF ist, mit denen wir uns ganz und gar nicht identifizieren wollen. Banküberfälle, Entführungen – all das empört die Mehrzahl der Studierenden. Allerdings sehen auch manche darin den Beginn einer romantisch verklärten Revolution.
Die neuen Formen des Zusammenlebens in Form von Wohngemeinschaften sind vielen Menschen ebenfalls suspekt. Viele stellen sich ein chaotisches Dasein mit freiem Sex wie bei der Kommune 1 vor. Dabei möchte die Mehrzahl der Studenten aus der Einsamkeit ausbrechen und auch aus wirtschaftlichen Gründen eine Wohnung zusammen mieten. Wegen der Vorurteile in der Bevölkerung erweist sich das, was heute selbstverständlich ist, als ungeheuer schwierig. Kaum ein Vermieter ist bereit, eine „Kommune“zu beherbergen. Ich selber habe das Glück, fast von Anfang an mit Kommilitonen zusammen in einer Altbauwohnung im bürgerlichen Friedenau unterzukommen. Allerdings verpflichten wir uns, die marode Etagenheizung auf unsere Kosten zu sanieren und arbeiten dafür die ganzen Sommersemesterferien über, um das Geld zu verdienen.
Als ich 1972 die Gelegenheit bekomme, aufgrund eines Vertrags zwischen der Freien Universität Berlin und der Universität Leningrad mit 19 anderen Studenten einen Stipendiatsaufenthalt in der Stadt an der Newa zu erhalten, öffnet sich mir eine Tür in eine unbekannte Welt. Den ganzen Juli über leben wir in Leningrad – heute wieder Sankt Petersburg – und genießen täglich, auch samstags, vier Stunden intensiven Russischunterricht und nachmittags interessante Besichtigungen. Es ist ein Jahrhundertsommer, und die Hitze sowie die Weißen Nächte, in denen es kaum dunkel wird, halten uns lange wach. Für unsere Gastgeber sind wir kritischen Studenten aus dem Westen nicht immer leichte Gäste, denn wir stellen durchaus unangenehme Fragen. Zum Beispiel im Historischen Museum, warum auf den Fotos denn Trotzki wegretuschiert wurde. Aber wir verstummen, als wir auf dem Friedhof für die Opfer der Belagerung durch Hitlers Truppen stehen. Ein riesiges Gelände ist das, etwa eine Million Menschen kamen um, vor allem aus Hunger und Erfrierung. Und ich begreife hier, in dieser so schönen, aber auch geschundenen Stadt die Bedeutung der Ostpolitik Willy Brandts. Seine Partei, die SPD, hat sich in Westberlin durch Verfilzungen unbeliebt gemacht. Aber weltpolitisch sind die Ostverträge nach der Adenauerschen Aussöhnung mit Frankreich ebenso bedeutsam. Eine alte Frau in der Straßenbahn in Leningrad fällt mir um den Hals, als sie hört, woher wir kommen. „Gottseidank habt ihr diesen Kanzler!“, ruft sie aus. „Wir haben die Blockade überlebt, aber wir hassen euch nicht. Sag deinem Volk, dass wir keinen Krieg wollen.“Bei vielen späteren Reisen, die ich zur Verbesserung meiner Sprachpraxis in die Sowjetunion unternehme, erlebe ich ähnliche Situationen, gepaart mit unglaublicher Gastfreundschaft. Was mich auch motiviert, die freundschaftlichen Beziehungen zu Neswish mit auf die Wege zu bringen.
Was ist für mich die entscheidende Nachwirkung aus diesen Jahren? Ich bemühe mich, im Kant’schen Sinne, meinen Verstand zu gebrauchen, dieses auch mit dem Mut, vieles zu hinterfragen. Weder glaube ich alles, was mir in Nachrichten serviert wird, noch kann ich Autorität anerkennen, die sich nur auf (scheinbarer) Macht oder einem Posten begründet. Dinge sind immer im Fluss und so können auch Dinge von uns Menschen beeinflusst und verändert werden.