Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Papa Tabárez, der Starflüsterer
Uruguays Nationalcoach ist länger im Amt als Joachim Löw und lässt ein ganzes Land vom Coup träumen – trotz gesundheitlicher Probleme
NISCHNI NOWGOROD (dpa) - Beim Jubeln ist Óscar Washington Tabárez immer der Letzte. Dabei würde Uruguays Trainer seinen Emotionen bei der bisher so erfolgreichen WM nur zu gerne freien Lauf lassen. Dass der äußerst beliebte Coach ziemlich schlecht zu Fuß ist, an Krücken geht und mit einem Golfmobil zum Training gefahren wird, liegt weniger daran, dass er mit 71 Jahren der älteste Trainer der WM ist. Vielmehr zwingt eine chronische Nervenkrankheit den Maestro mit der Krücke zur Zurückhaltung. Vor zwei Jahren erhielt Tabárez die Diagnose, dass er am Guillain-Barré-Syndrom leidet, einem Nervenleiden, das Muskelschwäche auslöst.
Über seine gesundheitlichen Probleme redet der Coach nicht. Genauso wenig wie über seine Verdienste. Das tun dafür andere. „Er ist der Vater des Erfolgs und für die gesamte Entwicklung der Nationalmannschaft verantwortlich“, sagt Stürmerstar Edinson Cavani, der seinerseits wegen einer Verletzung das Viertelfinalspiel gegen Frankreich am Freitag (16 Uhr/ZDF) zu verpassen droht, über Tabárez. „Meine Wertschätzung ist unermesslich.“
Tabárez ist nicht nur der älteste Fußballlehrer im Turnier, sondern auch der erfahrenste. In seiner insgesamt 14-jährigen Amtszeit hat er die Celeste bisher in 184 Länderspielen betreut – Rekord. Und das 185. gegen Vize-Europameister Frankreich soll nicht das letzte in Russland sein. „Wir sind hier, um sieben Spiele zu spielen“, sagt Tabárez. Soll heißen: Der Champion von 1930 und 1950 will ins Finale.
Nach vier Siegen in vier Spielen mit nur einem Gegentor erscheint dies keine Utopie mehr. Tabárez hat eine Mannschaft geformt, die zwar in den ersten zwei Gruppenspielen ein wenig über dem Zenit schien, aber immer durch enorme Laufbereitschaft, unbändigen Willen und Teamgeist besticht. „Wir sind ein kleines Land. Wir haben demografische Grenzen und können nie glauben, dass wir die Stärksten oder die Favoriten sind“, lautet das Credo von Tabárez.
Dem ordnen sich auch die Stars unter. „Keiner von uns darf sich wichtiger nehmen als das Team, keiner sich besser finden als die Mannschaftskollegen. Die Reihen schließen, alle auf Augenhöhe“, erklärt Uruguays Rekordtorschütze Luis Suárez.
1988 zum ersten Mal Nationalcoach
Schon von 1988 bis 1990 wirkte Tabárez erstmals als Auswahltrainer Uruguays. Nach dem Aus im WMAchtelfinale gegen Gastgeber Italien war Schluss. Es folgten Engagements bei sechs Vereinen in Südamerika und Europa, darunter von 1996 bis 1997 beim AC Milan. Doch 2001 schien seine Laufbahn zu enden.
Fast fünf Jahre blieb er ohne Trainerjob, ehe ihn im Februar 2006 noch einmal der Ruf des uruguayischen Verbandes erreichte. Die Südamerikaner hatten gerade die WM in Deutschland verpasst und damit den Tiefpunkt erreicht. Tabárez übernahm und erneuerte zunächst das Nachwuchsprogramm. Aus dem gingen die heutigen Stars wie Godín, Suárez und Cavani, dessen Einsatz gegen Frankreich wegen einer Wadenverletzung fraglich ist, hervor.
Schnell stellten sich Erfolge ein: 2010 der Einzug ins WM-Halbfinale, 2011 der Gewinn der Copa América. Im selben Jahr wurde er zum WeltTrainer gewählt. Aber Tabárez, der im ersten Beruf Geschichtslehrer war, kann auch anders. Seine Verteidigung der Beißattacke von Suárez bei der WM 2014, nach der er eine Intrige gegen Uruguay witterte, war fragwürdig. Ein Jahr danach wurde er nach einem Handgemenge im Skandal-Viertelfinale der Copa América gegen Chile auf die Tribüne verbannt und später für drei Spiele gesperrt.
Doch im Vordergrund steht immer die Liebe zum Fußball, der seit nunmehr über 50 Jahren sein Leben bestimmt und mittlerweile mehr als ein Spiel für ihn ist. „Die Nationalmannschaft gibt ihm Vitalität“, sagt Abwehrchef Godín, „ich bin davon überzeugt: Sie schenkt ihm das Leben.“