Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Johnsons Rücktritt erhöht Druck auf Regierungschefin May
Brexit-Streit in der britischen Regierung eskaliert – Brüssel reagiert zurückhaltend
LONDON (dpa) - Knapp neun Monate vor dem EU-Austritt eskaliert in Großbritannien der Streit über die Brexit-Verhandlungen. Am Montag traten zwei wichtige Minister aus Protest gegen den Kurs von Premierministerin Theresa May zurück, die eine enge Bindung an die Europäische Union bewahren will. May kämpft nun um ihr politisches Überleben. Beobachter befürchten einen Aufstand der Hardliner in ihrer konservativen Partei, die einen strikten Bruch mit der EU anstreben.
Am Nachmittag trat Außenminister Boris Johnson zurück, nur Stunden nach Brexit-Minister David Davis. Ein Nachfolger war schnell gefunden: Wie die Regierung am späten Montagabend in London mitteilte, folgt der bisherige Gesundheitsminister Jeremy Hunt Johnson als Außenminister.
Erst am Freitag hatte May ihre zerstrittene Ministerriege nach heftigen Debatten auf ihre neue Verhandlungslinie einschwören können. Doch der kurz zuvor auf einer Klausur geschlossene Burgfrieden hielt nur zwei Tage. Für May, die seit der Neuwahl 2017 im Parlament nur noch über eine hauchdünne Mehrheit verfügt, sind die Rücktritte ein herber Schlag. Sie muss nun mit weiterem Widerstand aus dem Brexit-Flügel ihrer Partei rechnen. Etwa ein Fünftel der Abgeordneten ihrer Fraktion werden dazu gezählt.
Nach Mays Vorschlag soll Großbritannien bei Waren und Agrarerzeugnissen auch nach dem Austritt eng an den europäischen Binnenmarkt gebunden bleiben. Die anderen drei Freiheiten des Binnenmarkts – Kapital, Arbeitskräfte und Dienstleistungen – sollen aber beschränkt werden. Damit wollen die Briten die ungehinderte Einreise von EU-Bürgern stoppen und im Dienstleistungssektor eigene Wege gehen.
Davis erklärte, Mays Brexit-Plan schwäche die Verhandlungsposition Londons; Großbritannien gebe „zu leichtfertig zu viel her“. Johnson, wichtigster Brexit-Wortführer im Kabinett, soll Mays Strategie sogar als „Sch...haufen“bezeichnet haben. Am Montag hielt May im Unterhaus dagegen. Ihr Ziel, weiterhin enge Beziehungen zur EU zu pflegen, schütze Arbeitsplätze und sei das beste für die Bevölkerung. „Es ist der richtige Deal für Großbritannien.
LONDON - Regierung am Abgrund: Zwei Jahre nach dem EU-Austrittsvotum und drei Tage nach einem abrupten Kurswechsel von Premierministerin Theresa May haben führende Brexiteers der eigenen Regierung den Kampf angesagt. Nachdem in der Nacht zum Montag Brexit-Minister David Davis seine Demission eingereicht hatte, trat am Montagnachmittag, wenige Minuten vor einer Unterhaus-Erklärung der Regierungschefin, auch Außenminister Boris Johnson zurück. May dankte beiden Ministern, teilte aber mit: „Wir sind unterschiedlicher Meinung.“
Davis und Johnson waren von May vor zwei Jahren ins Kabinett geholt worden. Gemeinsam mit dem Außenhandelsminister Liam Fox sollten sie eine Lösung finden für den Brexit, den sie durch ihre Haltung im Referendumskampf mit heraufbeschworen hatten.
Er könne den am Freitag beschlossenen Kurswechsel zu einem weicheren Brexit nicht mittragen, begründete Davis seinen Rücktritt. Die Regierungschefin brauche „einen enthusiastischen Gläubigen, keinen widerwilligen Rekruten“im Ministeramt.
Corbyn attackiert die Regierung
Johnson hätte als Gastgeber beim Londoner Westbalkan-Gipfel fungieren sollen, zu dem am Dienstag auch Regierungschefs wie Angela Merkel und Sebastian Kurz erwartet werden.
Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn tadelte die Regierung für „zwei Jahre Unentschlossenheit und interne Zerstrittenheit und Chaos“. Johnson habe seit Monaten „eine Peinlichkeit für unser Land“dargestellt, höhnte der Fraktionschef der schottischen Nationalpartei SNP, Ian Blackford. Aus Brüssel gab EU-Ratspräsident Donald Tusk seiner Hoffnung Ausdruck, mit den beiden Ministern könne man sich auch von „der Idee des Brexit“verabschieden.
Bei einer Klausurtagung auf ihrem Landsitz in Chequers hatte die Premierministerin am Freitag ihrem Kabinett den Abschied vom harten Brexit samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion aufgezwungen. Angestrebt wird nun ein Hybrid aus politischer Alleinstellung und wirtschaftlich enger Verflechtung mit dem Kontinent („weicher Brexit“). Eine Freihandelszone soll den reibungslosen Handel mit Gütern gewährleisten; dafür müssten die „gemeinsamen Regeln“befolgt werden, heißt es im dreiseitigen Chequers-Papier. Bei Dienstleistungen wollen die Briten hingegen ihre eigenen Wege gehen. Auch könne die Personenfreizügigkeit über die bereits vereinbarte Übergangsphase bis Ende 2020 hinaus nicht aufrecht erhalten werden.
Davis sowie andere EU-Feinde wie der Leiter einer Gruppe von BrexitUltras, Jacob Rees-Mogg, misstrauen diesen Vorstellungen. „Gemeinsame Regeln“bedeute in Wirklichkeit „EURegeln“, argumentiert der bisherige Brexit-Minister in seinem Rücktrittsschreiben – eine Einschätzung, die in Brüssel geteilt wird. Dort besteht zudem der Verdacht, die Briten wollten die vier Säulen des EU-Binnenmarktes (Güter, Dienstleistungen, Geld, Personen) auseinanderbrechen. Das sei gerade mit kleineren Mitgliedsstaaten wie den skandinavischen oder den Benelux-Ländern nicht zu machen, heißt es.
In den bevorstehenden Verhandlungen müsste London also weitere Zugeständnisse machen. Genau dies befürchtet Davis. Die EU habe stets alle britischen Zugeständnisse verbucht und anschließend mehr gefordert, klagte der Politiker gegenüber der BBC. „Wir geben immer wieder zu schnell nach.“Premierministerin May verteidigte im Unterhaus ihre Politik als „richtigen Brexit“. Ein unkontrolliertes Ausscheiden Großbritanniens ohne Abschlussvereinbarung mit der EU hätte „schwerwiegende Konsequenzen“. Das Land habe Besseres verdient.
Johnson begründete seinen Rücktritt damit, dass er die neue Linie nicht mittragen könne: „Der BrexitTraum stirbt, erstickt von unnötigen Selbstzweifeln“, heißt es im Rücktrittsschreiben. Mit Mays Plan steuere Großbritannien „auf den Status einer Kolonie“zu. Die Brexit-Ultras machten ihrer Enttäuschung Luft. May solle zurücktreten und „einem enthusiastischen Brexiteer Platz machen“, forderte die Abgeordnete Andrea Jenkyns.