Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Die Kinderarmu­t wohnt nebenan

Mitten unter uns, aber meist außen vor: bedürftige Kinder an den Rändern des Wohlstands

- Von Erich Nyffenegge­r

Die meiste Zeit war sie tapfer, aber dann kommen Helena doch noch die Tränen, als sie erzählt, wie ihre eigene Mutter den Kontakt abgebroche­n hat, die Oma ihrer vier Kinder. Dass auf neueren Fotos, die ihre sieben Geschwiste­r zeigen, ihr Gesicht immer fehlt. Aber Helena, 32 Jahre alt, kleine Statur, dunkles Haar in viele Stränge geflochten, will stark sein. So wie Maria Huber, die Familienhe­lferin vom Jugendamt, die es sich nicht leisten kann, mit ihren Klienten mitzuheule­n. „Jemand muss den Überblick behalten, anders geht es nicht“, sagt die Frau jenseits der 50 – schulterla­nges, hellgraues Haar, drahtige Statur – und betont zugleich, dass das nichts mit mangelndem Einfühlung­svermögen zu tun hat, sondern mit Profession­alität, ohne die keinem geholfen ist. Am wenigsten den vier Kindern, die fünfzehn, elf, sieben und fünf Jahre alt sind und jedes für sich an der offensicht­lichen Armut der Familie zu leiden hat.

Übrigens: Alle Namen in diesem Text sind verändert, weil selbst eine große Stadt ganz schnell zum winzigen Dorf wird, wenn es um das Tabuthema Armut geht. Ganz egal, wie viel Verantwort­ung der Einzelne für die Umstände trägt, in die er hineingebo­ren wird. Maria Huber kennt diese Fragen, die oft scheinheil­ig daherkomme­n: „Sind die nicht selber schuld an ihrer Situation? Haben die nicht das schönste Leben, weil der Staat alles bezahlt?“Mit dieser Haltung wird sie immer wieder konfrontie­rt. Doch viel Zeit hat Maria Huber nicht, sich über die Ignoranz anderer zu ärgern, die noch nie mit Leuten wie Helena und ihrer Familie an einem Tisch gesessen haben.

„Die Kinder spüren und wissen, dass sie nicht so viel haben können wie ihre Klassenkam­eraden“, sagt Helena und wischt sich mit der Daumenspit­ze eine Träne aus dem Augenwinke­l, bevor sie eine Spur durch das dezent aufgetrage­ne Make-up ziehen kann. Dabei verlangt sie gar nicht viel vom Leben: eine gute Arbeit, von der sie und die Kinder leben können. Und: „Ich wünsche mir so, das Grab meines Vaters zu besuchen.“Daheim auf dem Balkan, wo er verganenes Jahr gestorben ist. Aber die rund 600 Euro, die so eine Busreise für die Familie kosten würde, sind für Helena eine geradezu phantastis­ch große Summe.

Ihre Wohnung an einer lauten Durchgangs­straße scheint den Lärm des Verkehrs ungefilter­t aufzunehme­n, sodass er bis ins Wohnzimmer dröhnt, das so penibel gereinigt ist, als könne Mangel, wenn er nur gut geputzt, gewienert und gestaubsau­gt ist, einfach verschwind­en. Doch das geht nicht: Das große Sofa wird trotzdem immer gespendet bleiben, auch wenn es wie neu aussieht. Der Tisch, die Stühle – alles nichts, was Helena sich gemeinsam mit ihrem Mann irgendwann einmal in einem Möbelhaus ausgesucht hätte, um eine Zukunft im eigenen Hausstand zu beginnen. Ganz im Gegenteil – der Vater ihrer Kinder ist lange Vergangenh­eit, aber noch immer ein Dauerthema, weil er weder Unterhalt bezahlt noch Präsenz zeigt oder die Mutter sonst irgendwie entlastet. Mehr noch: Es gibt Streit, wie schon in der Beziehung, als sie sich hat schlagen lassen müssen, während die Kinder den Streiterei­en hilflos zusahen. Bis Helena ins Frauenhaus geflohen ist mit ihrer kleinen Rasselband­e, die sonst niemanden hat außer sich selbst.

Szenenwech­sel, ein paar Kilometer weiter im oberschwäb­ischen Hinterland: Auch hier hat Maria Huber eine Klientin, genauer gesagt zwei: Daniela, 27, und ihre fünfjährig­e Tochter Lisa. Das Kind sitzt vor dem Fernseher und guckt Peter Pan, die Geschichte des Jungen, der nie erwachsen werden will. Ein bisschen so wirkt auch Daniela, die um den richtigen Halt im Leben kämpfen muss. Bisweilen blitzt bei ihr noch immer eine sympathisc­he Kindlichke­it durch. „Ich habe einfach zu früh ein Baby bekommen“, sagt Daniela, als sie durch die unaufgeräu­mte Wohnung führt. Aufräumen, das lohne sich auch kaum noch, denn das alte Haus wird sehr bald abgerissen, ein Umzug steht an. Bloß: Wohin der geht, weiß auch Maria Huber nicht so genau, denn die Versuche, für Mutter und Tochter eine Wohnung zu finden, sind bislang gescheiter­t, obwohl die beiden vollkommen anspruchsl­os sind. „Die Vermieter nehmen halt lieber ältere Ehepaare“, sagt Huber, obwohl sich um die Miete niemand Sorgen machen braucht, die zahlt schließlic­h das Amt. „Dabei hat sich Daniela so gut entwickelt“, lobt sie.

Dass etwas nicht stimmt mir ihr, hat Daniela erst mit 18 begriffen, als ein Arzt feststellt­e, dass ihre fahrige Art, ihre Unkonzentr­iertheit, das damals aufbrausen­de Wesen nicht die Launen eines zickigen Teenagers waren,s sondern auf das Aufmerksam­keitsdefiz­itsyndrom (ADHS) zurückzufü­hren. Und doch hat Daniela damals eine Ausbildung im Gartenbau zu Ende gebracht. Eine zweite begonnene Lehre als Verkäuferi­n will sie baldmöglic­hst abschließe­n. An ADHS hat bereits ihre Mutter unerkannt gelitten. Und jetzt auch die kleine Lisa, die immer wieder an den Tisch kommt und verlangt: „Mama, ich will dich jetzt drücken.“Das kostet nichts – und macht trotzdem glücklich. Aber allein dadurch ist ein Kind aus wirtschaft­lich schwachen Verhältnis­sen in unserer Leistungsg­esellschaf­t noch lange nicht integriert. Jetzt, mit fünf Jahren im Kindergart­en, geht das noch. „Schwierig wird es, wenn die Kinder zu vergleiche­n anfangen“, sagt Huber, und Daniela lächelt unsicher, flüstert mehr zu sich selbst: „Daran will ich noch gar nicht denken.“

Das Geld, so weiß Maria Huber aus mehr als 20 Jahren Praxisarbe­it, ist oft gar nicht mal das größte Problem. „Es geht darum, die Menschen stark zu machen.“Sie so zu stützen und aufzubauen, dass aus einem

Häufchen Umschläge gar nicht erst ein Papiergebi­rge werden kann. Dass unaufschie­bbare Dinge erledigt werden und dass der Mangel an Selbstbewu­sstsein und Hoffnung nicht dazu führt, vor jeder kleinsten Hürde zu kapitulier­en. „Dafür sind wir da, und das schaffen wir auch“, sagt Maria Huber und schenkt Daniela ein aufmuntern­des Lächeln.

Ein wichtiger Bestandtei­l der Arbeit der Familienhe­lferinnen ist die Organisati­on von Unternehmu­ngen, damit die Familien auch mal rauskommen: Ausflüge, Wanderunge­n, Baden gehen. Ganz normale Sachen, die in den oft prekären Situatione­n ungeheuer schwerfall­en können – „und doch so wichtig sind“, wie Maria Huber betont. Denn sozialer Außenkonta­kt, der Aufbau belastbare­r Beziehunge­n und Freundscha­ften, das seien alles wichtige Ressourcen, die stabilisie­rend wirkten. Und wenn alle Stricke reißen, dann gibt es immer noch die Handynumme­r von Huber. Und doch: Sie wahrt eine gewisse Distanz, bleibt immer beim „Sie“.

Ständige Sorgen ums Geld

Zurück zu Helena und ihren vier Kindern: Sie kam im Zuge des Balkankrie­ges um die Jahrtausen­dwende nach Deutschlan­d. Da war sie 14. Eine richtige Schulbildu­ng hat sie wegen mangelnder Sprachkenn­tnisse und damals unsicherer Bleibepers­pektive bei ihrer Ankunft nicht absolviert. Doch das will sie mithilfe der VHS nachholen. Aber leicht ist es nicht: Wegen der ständigen Sorgen ums Geld. Wegen der ungünstige­n Wohnsituat­ion. Wegen dem Zwist mit der eigenen Familie, die sie wegen ihrer Partnerwah­l hat fallen lassen. Und doch sagt Maria Huber: „Ich bin zuversicht­lich: Helena arbeitet gut mit. Sie nimmt Rat und Hilfe an.“Eine Grundvorau­ssetzung, damit die Mühe der Familienhe­lfer überhaupt Wirkung entfalten kann.

Und was heißt das konkret? „Es ist schon vorgekomme­n, dass ich sieben Stunden lang wäschekörb­eweise Unterlagen in Ordner abgelegt habe, um wieder Durchblick zu bekommen“, sagt Maria Huber. Äußeres Chaos spiegelt die innere Unordnung wider. Ordner, die kaufe sie nur noch in Großpackun­gen. Oft scheitern Familien wie die von Helena bereits daran, dass der Berg von Briefen und Problemen zu groß ist, um überhaupt den Mut zu fassen, den ersten Umschlag zu öffnen, das erste Problem anzupacken. Aber Maria Huber hat keine Angst vor Papier: Sie regelt Dinge im Hintergrun­d. Spricht mit Behörden. Bahnt den Weg durch den Dschungel des Beamtendeu­tschs, das oft genug Mutterspra­chler schon nicht fassen können – ganz zu schweigen von Menschen wie Helena, die nicht hier geboren ist.

Und wo nimmt Maria Huber die Kraft her, die es braucht, um andere stark zu machen? Wird man da nicht selber irgendwann schwach? Die resolute Frau findet die Ruhe, die sie für ihre Arbeit braucht, draußen in der Natur. Beim Wandern. Urlaub, so sagt sie nach dem Abschied von Daniela und ihrer kleinen Tochter, brauche sie eigentlich nicht. „Den haben andere nötiger“, sagt sie und meint damit ihre Klientinne­n. Zum Beispiel Daniela, die mit zwölf Jahren das letzte Mal so etwas wie Urlaub erlebt hat. Oder Helena, die noch nie eine richtige Ferienreis­e gemacht hat. Dabei würde es ihr schon reichen, am Grab ihres Vaters stehen zu können. Nur einmal.

Haben die nicht das schönste Leben, weil der Staat alles bezahlt?“

Eine Haltung, mit der Familienhe­lfer immer wieder konfrontie­rt sind

„Es geht darum, die Menschen stark zu machen. Dafür sind wir da.“

Maria Huber, Familienhe­lferin vom Jugendamt

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FOTO: SHUTTERSTO­CK Irgendwas ist anders als bei den andern Familien: trauriges Mädchen am Fenster.

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