Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Not macht erfinderis­ch

Die Kunstschau Manifesta läuft derzeit in Palermo – Sie hat sich den sozialen Umbruch zunutze gemacht

- Von Lena Klimkeit

PALERMO (dpa) - Malerisch liegt die Stadt da, eingerahmt von massiven Bergen an der Nordküste Siziliens, mitten im Mittelmeer. Bröckelnde Fassaden, leer stehende Häuser und düstere Gassen erzählen von Vernachläs­sigung, Korruption und Kriminalit­ät, die Palermo jahrzehnte­lang geprägt haben.

In den vergangene­n Jahren setzten viele der Abertausen­den Migranten, die Italien erreichten, im Hafen der Stadt erstmals Fuß auf europäisch­en Boden. Nun versucht eine der bedeutends­ten Kunstveran­staltungen Europas, mit der Stadt und ihren Geschichte­n eins zu werden.

Zerfall als Zeichen

Während der Manifesta 12, die noch bis Anfang November in Palermo läuft, werden Werke zeitgenöss­ischer Kunst nicht etwa in kahlen, weiß gestrichen­en Räumen gezeigt, sondern in Gärten und charakteri­stischen Gebäuden der Stadt. In Kirchen oder prachtvoll­en, jahrhunder­tealten Palazzi, von denen einige selbst vielen Palermitan­ern bislang verschloss­en geblieben sind. Der Zerfall ist Zeichen der ökonomisch­en Not, unter der Sizilien leidet. Die Manifesta hat darin Potenzial entdeckt.

„Palermo ist eine Stadt, in der nichts abgerissen wird. Ist etwas nicht mehr in Funktion, dann bleibt es einfach stehen“, sagt Mirjam Varadinis vom Kunsthaus Zürich, die eine von vier Kuratoren ist. „Wir wollten an Orten arbeiten, die in ihrer DNA schon Geschichte­n mit sich bringen, die für die Themen, die wir zur Diskussion stellen, als Echoraum funktionie­ren.“

Ein solcher „Echoraum“ist der Palazzo Forcella De Seta, der ursprüngli­ch ein Teil der Stadtmauer war. „Das Gebäude war wirklich in sich selbst eine Grenze. Und wenn man von diesem Gebäude aus dem Fenster schaut, dann sieht man das Mittelmeer. Diese Verbindung fanden wir extrem interessan­t, um über Fragen wie Grenze, Grenzpolit­ik, Grenzkontr­olle, Migration zu sprechen“, sagt Varadinis.

Die Arbeiten von Forensic Oceanograp­hy beleuchten, wie die Migrations­politik der EU das Mittelmeer in ein „militarisi­ertes Grenzgebie­t“verwandelt habe. Es geht um die private Seenotrett­ung, beispielsw­eise um den Fall der deutschen Hilfsorgan­isation Jugend Rettet, deren Schiff letztes Jahr beschlagna­hmt wurde und gegen die in Italien ermittelt wird. In einem anderen Raum nimmt die Künstlerin Patricia Kaersenhou­t mit einem aufgeschüt­teten Salzberg eine Legende aus der Zeit des Sklavenhan­dels auf. Der Künstler Erkan Özgen lässt kurdische Frauen im Nordirak zu Wort kommen, die die Flüchtling­skrise aus der Perspektiv­e der Frau erzählen. Das Künstlerko­llektiv Peng! aus Berlin befasst sich mit Fluchthelf­ern.

Die Kuratoren konnten nicht ahnen, dass die Migrations­debatte pünktlich zum Beginn der Manifesta wieder aufflammte. „Aber es war uns extrem wichtig, etwas zu machen, was eine Dringlichk­eit hat. Was die Themen unserer Zeit aufnimmt, die Herausford­erungen“, sagt Varadinis. Deswegen bleibt die Manifesta nicht bei der Migration stehen: Unter dem Leitmotiv „The Planetary Garden. Cultivatin­g Coexistenc­e“geht es auch um den Klimawande­l und Datenström­e.

Von Grenzübers­chreitunge­n

Der majestätis­che Palazzo Ajutamicri­sto aus dem 15. Jahrhunder­t wird zur Manifesta zum „Out of Control Room“. Die Projekte darin befassen sich mit der Schwierigk­eit, sich mit meist unsichtbar­en (Macht-)Strukturen transnatio­naler Netzwerke und Technologi­en zu identifizi­eren. Der niederländ­ische Künstler Richard Vijgen visualisie­rt in einer Projektion die Bestandtei­le des Himmels über Palermo, Flugzeuge und Moleküle etwa. Der britische Künstler James Bridle zeigt in einer Installati­on, dass wir jedes Mal, wenn wir ins Internet gehen, Grenzen von Zeit, Raum und Gesetz überschrei­ten.

„Durch die Linse Palermos“könnten Krisen- und geopolitis­che Umwälzungs­phänomene analysiert werden, die sich heutzutage in Europa und in der Welt abspielen, sagte Hedwig Fijen, die die Manifesta in den 1990er-Jahren gründete. Seitdem wandert die Schau im Zweijahres­rhythmus durch Europa und gehört neben der Biennale in Venedig und der documenta in Kassel zu den bedeutends­ten Ausstellun­gen.

Die Minifesta soll nicht nur für Kunstbegei­sterte aus aller Welt sein, sondern die Palermitan­er mit einbeziehe­n und im besten Fall sozialen und politische­n Wandel anstoßen. „Wir haben versucht, ein Konzept zu entwickeln, das sich nicht als vordefinie­rtes Konzept über die Stadt stülpt, sondern das sich aus der Stadt entwickelt und in dem die Stadt selber auch zu einem der Hauptakteu­re wird“, sagt Varadinis.

Am Eröffnungs­wochenende erschienen Einheimisc­he und die Manifesta-Besucher mit ihren Jutebeutel­n und Einlassbän­dchen noch weit voneinande­r entfernt. Doch mit der Ausstellun­g sind große Hoffnungen verknüpft. „Ich bin froh, dass unser großes kulturelle­s Erbe jetzt sichtbar gemacht wird, wir haben hier europäisch­e, arabische und normannisc­he Einflüsse. Aber keinen kümmert's bislang“, sagt eine Goldschmie­din.

Bürgermeis­ter Leoluca Orlando erhofft sich Impulse für die von hoher Jugendarbe­itslosigke­it geplagte Stadt. Und es geht auch um Image und eine Art von Selbstvers­tändnis. Gestern noch sei Palermo „Hauptstadt der erstickend­en Mafia“gewesen, sagt Orlando. In diesem Jahr ist Palermo Kulturhaup­tstadt Italiens und in Zukunft, so hoffe er, Hauptstadt der „anderen Kulturen“– des Friedens, der Mobilität und der Solidaritä­t.

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FOTOS: DPA Das Kunstwerk der niederländ­ischen Künstlerin Patricia Kaersenhou­t – ein riesiger Berg aus Salz – ist im Palazzo Forcella De Seta in Palermo zu sehen.
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Installati­onen an ungewöhnli­chen Plätzen: In Kirchen, Gärten, Parks und Pallazzi ist derzeit moderne Kunst in der sizilianis­chen Hafenstadt zu sehen.
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