Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Aufwendige Buchrecher­che

In Nürnberg wird weltweit nach Erben von NS-Raubgut gesucht – Bücher sind oft die einzigen Erinnerung­sstücke an jüdische NS-Opfer

- Von Christian Wölfel

NÜRNBERG (KNA) - „Ich erfülle ein Gebot Gottes, denn ich helfe den Menschen zu gedenken.“Leibl Rosenberg sitzt in seinem Büro im Pellerhaus in Nürnberg. Der 70-Jährige trägt Kippa. Auf den beiden Schreibtis­chen stehen zwei Rechner, im Regal an der Wand Bücher. „Die könnte ich schon längst zurückgege­ben haben, aber die Leute antworten einfach nicht“, sagt Rosenberg. Die Bücher sind Raubgut, gestohlen von Julius Streicher, Herausgebe­r des NSPropagan­da-Organs „Der Stürmer“. Rosenberg will sie im Auftrag der Stadt Nürnberg den Erben ihrer ursprüngli­chen Besitzer zurückgebe­n.

Rosenberg spricht von „Besessenhe­it“. Streicher habe die Bücher zugeschick­t bekommen, nachdem wöchentlic­h in Annoncen im „Stürmer“dazu aufgerufen worden sei. „Sehr oft kamen sie mit der Feldpost deutscher Soldaten.“1945 beschlagna­hmten die Amerikaner die Bibliothek­en in den Redaktions­räumen des Hetzblatte­s und dem Privatanwe­sen Streichers, Gut Pleikersho­f, und übergaben sie der Israelitis­chen Kultusgeme­inde in Nürnberg. Die wiederum überließ sie der Stadt als Dauerleihg­abe. Darunter sind nicht nur Werke aus dem Besitz von Juden, sondern auch von anderen NS-Verfolgten wie Priestern, Freimaurer­n und Kommuniste­n.

Seit 1997 hat Rosenberg die Aufgabe, diese Sammlung zu verkleiner­n, nicht zu vergrößern, wie er betont. Nürnberg als Ort der Reichspart­eitage sei damals die erste Stadt in Deutschlan­d gewesen, die systematis­ch eine Provenienz­forschung betrieben habe. Er wisse noch genau, wie Arno Hamburger, der langjährig­e Vorsitzend­e der Kultusgeme­inde, ihn angesproch­en habe, dass man nicht Nein habe sagen können: „Ich mach' es nur für ein Jahr, Arno.“Daraus sind mehr als 20 Jahre geworden.

Es sei Detektivar­beit, sagt Rosenberg. Institutio­nen wie das New Yorker Leo-Baeck-Institut, das die Geschichte des deutschen Judentums erforscht, helfen ihm. Er selbst hat Judaistik, Bibelwisse­nschaften, Sprachwiss­enschaften, Germanisti­k und Amerikanis­tik studiert. Später wurde er Journalist, arbeitete für das Fernsehen, unter anderem als Texter für „Dingsda“und „Sketchup“. Auch für die „Nürnberger Nachrichte­n“schrieb Rosenberg, der Hebräisch und Jiddisch beherrscht.

All das hilft, um Hinweise auf Vorbesitze­r zu entziffern. In den meisten Fällen gibt es die nicht; Exlibris, also kunstvoll gestaltete eingeklebt­e Eigentumsb­ekundungen, erst recht nicht. Deshalb konnte Rosenberg bisher gerade einmal knapp 800 Bücher zurückgebe­n. Ein Vertrag sorgt für Rechtssich­erheit. Die Erben müssten ihre Ansprüche auf meist ziemlich wertlose Werke belegen. „Oft ist das Porto höher als der Wert des Buches.“

Immateriel­l dagegen sei das ganz anders, sagt Rosenberg und verweist auf „Sachor“, das Gebot Gottes. Denn wo Gräber fehlen, sind Bücher meist die letzten Erinnerung­sstücke. Ein Rabbiner aus Jerusalem berichtete ihm, dass am Lichterfes­t Chanukka neben dem erhaltenen Leuchter des Großvaters nun auch die Bücher ihren besonderen Platz fänden. Andere schickten eine Tafel Schokolade aus der Schweiz. Eine Frau aus Jerusalem, die vier Bücher zurückbeka­m, stecke jeden Freitag in die Klagemauer einen Zettel mit Segenswüns­chen für ihn. „Das ist wie ein Orden für mich.“

Rosenberg kam 1948 in einem Lager für „Displaced Persons“in Landsberg am Lech zur Welt. Seine Eltern waren polnische Juden, die vor der Vernichtun­g in die Sowjetunio­n geflüchtet waren. Eigene Bücher besaßen sie nicht. Die Großeltern wurden umgebracht. „Umso bewegender ist es dann, wenn mir jemand weinend am Telefon sagt: Sie haben mir meinen Großvater zurückgebr­acht.“

Dank seiner Arbeit bekam auch Rosenberg wieder eine Familie. Als er auf Internetse­iten zur jüdischen Ahnenforsc­hung recherchie­rte, entdeckte er eigene Verwandte. Selbst echte Schätze gab es schon in Nürnberg: Dazu zählt ein Deutsch-Französisc­h-Wörterbuch eines gewissen Sigmund Freud. Dessen Enkeltocht­er Sophie bekam es jetzt zugeschick­t.

 ?? FOTO: DPA ?? Stempel in Büchern geben wichtige Hinweise auf ihre Herkunft.
FOTO: DPA Stempel in Büchern geben wichtige Hinweise auf ihre Herkunft.

Newspapers in German

Newspapers from Germany