Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Künstler gegen Kämpfer
Im WM-Finale Frankreich – Kroatien am Sonntag kommen Fans aller Fußballstile auf ihre Kosten
MOSKAU (SID) - Ein schwerer Gang über den Rasen des Luschniki-Stadions, ein letzter wehmütiger Blick, dann heißt es Abschied nehmen. 1463 Tage nach der unvergesslichen Nacht von Maracana wird Philipp Lahm den Goldpokal in Moskau dem Schicksal überlassen müssen. Ein letztes großes Fußballspiel, das Finale der Weltmeisterschaft in Russland, wird am Sonntag (17 Uhr/ZDF und Sky) darüber entscheiden, wer die Sehnsucht der Heimat stillen kann: Frankreich oder Kroatien.
Beide Teams haben sich als würdig erwiesen. Anders als die tief gefallenen deutschen Weltmeister überzeugten sie auf und neben dem Platz als unerschütterliche Einheiten, als Mannschaften – und das nicht nur zu Marketingzwecken. Herausragende Einzelkönner wie Himmelsstürmer Kylian Mbappé oder Weltklasse-Spielmacher Luka Modric stellten sich in den Dienst des Kollektivs, ihre Trainer Didier Deschamps und Zlatko Dalic legten als Architekten die Fundamente des Erfolgs. Beide Teams haben sich das Finale redlich verdient, die Rollen sind nicht ganz so klar verteilt, wie manche sagen: Kroatien zeigte in diversen WM-Spielen, dass es bereit ist, sein Leben auf dem Platz zu lassen. Und doch bleib Frankreich der Favorit. Die Grande Nation erwartet den zweiten WM-Titel nach dem Heimtriumph vor 20 Jahren, sie braucht den Pokal, auch als Wiedergutmachung für den Frust im EMEndspiel von Paris 2016 gegen Portugal (0:1 n.V.). „Wir müssen das Finale gewinnen, weil wir die Niederlage vor zwei Jahren noch immer nicht verarbeitet haben“, sagt Deschamps. Er weiß: Seine „Baby Bleus“können mit dem Druck umgehen, „sie sind jung, haben aber Charakter. Eine Siegermentalität“, sagt Deschamps.
Der Weltmeister von 1998 hat seinem mit Offensivkünstlern gespickten Team ein pragmatisches System verordnet, acht Spieler, darunter der unvergleichliche Dauerläufer N'Golo Kante, kümmern sich um die Organisation, Mbappé, Antoine Griezmann und Olivier Giroud sind vorne auf sich allein gestellt. Für Gefahr und wichtige Tore sorgten nach Standards allerdings auch die Innenverteidiger
Samuel Umtiti und Raphael Varane. Es war nicht immer schön anzusehen, was die hochtalentierte Equipe Tricolore spielte, dafür aber ungemein effektiv. In Frankreich sagen sie, Deschamps sei ein Glückspilz. Symbolisch dafür steht eine dicke, blaue Katze, die ein Karikaturist der L'Equipe erschuf („La chatte à Deschamps“). „Ich bin sicher oftmals zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, sagt Deschamps. Was soll da noch schiefgehen? Zumal die Kroaten nach dreimal 120 Minuten in Folge ausgelaugt sein könnten. Präsident Emmanuel Macron reist voll Hoffnung nach Moskau – und könnte doch ein blaues Wunder erleben. Besser gesagt: ein rot-weiß-blaues Wunder.
Kroatiens Trainer Dalic gibt zwar zu, die jüngsten Spiele hätten Kraft gekostet. „Aber es sieht so aus, dass je härter es wird, desto besser werden wir“, sagt er: „Es gibt keine Ausreden. Es ist in unserem Leben eine einzigartige Chance. Ich bin sicher, dass wir die nötige Stärke und Motivation finden werden.“Geschichte habe seine Auswahl ohnehin schon geschrieben, als mit 4,2 Millionen Einwohnern zweitkleinstes Land in einem WM-Finale nach Uruguay. „Und gemessen an unserer Infrastruktur sind wir ein Wunder“, sagt Dalic. Eine Offenbarung des Weltfußballs mit phänomenalen Spielern. Wie Ivan Rakitic: Niemand hat in dieser Saison mehr Spiele absolviert als der Stratege des FC Barcelona. Oder wie die unermüdlichen und offenbar schmerzfreien Stürmer Ivan Perisic und Mario Mandzukic, die England im Halbfinale im Alleingang ausschalteten. Oder natürlich wie Luka Modric: Der Mann, den sie das Pony nennen, ist für seinen Trainer der einzig mögliche Weltfußballer im Jahr 2018.
„Nach dieser Saison mit Real Madrid sprintet er noch immer nach 116 Minuten dem Ball hinterher. Er führt das Team, er ist für mich der Mann des Turniers. Er verdient diese Trophäe“, sagt Dalic. Sorgt Modric am Sonntag für das kroatische Fußballwunder, sollte ihm nach dem Goldpokal auch der Ballon d'Or überreicht werden.