Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Amtsgerichte ächzen unter Aktenbergen
Reform des Notariatswesens verursacht Bearbeitungsstau an Amtsgerichten
RAVENSBURG (ume) - Die Nachlassund Betreuungsabteilungen der Amtsgerichte in Baden-Württemberg schieben einen Berg von Akten vor sich her. Das Stuttgarter Justizministerium berichtet von „teilweise erheblichen Rückständen“als Folge der Notariatsreform vom 1. Januar 2018. In Württemberg haben die Amtsgerichte Aufgaben der aufgelösten Bezirksnotariate übernommen. Doch die Computersysteme sind nicht kompatibel, sodass nach und nach sämtliche Akten neu von Hand erfasst werden müssen.
RAVENSBURG - Wer die Betreuung eines dementen Angehörigen regeln oder eine Erbschaf tsangelegenheit klären will, mus s am Amtsg ericht derzeit teils deutlich länger warten als üblich. Grund ist die Notariatsreform, die zum 1. Januar diesen Jahres in Kraft getreten ist – gleichz eitig wurde die Neuordnung des Grundbuchwesens abgeschlossen. Beides zusammen bezeichnet das Justizministerium in Stuttgart als größte Reform in der Geschicht e der badenwürttembergischen Justiz.
Die Amtsgerichte, die viele Aufgaben neu übernommen haben, ächzen unter der Mehrbelastung – u nddie Bürger müssen warten. Zum Beispiel am Amtsgericht Ravensburg. Wer sich dort in diesen T agen erstmals mit einer einfachen Erbschaftsangelegenheit meldet, muss mit einer Bearbeitungszeit von fünf bis sechs Monaten rechnen, das ist dreimal länger als zuvor beim Bezirksnotar.
„Wir brauchen viel Zeit allein fürs Beschwerdemanagement“, klagt der Ravensburger Amtsgerichtsdirektor Matthias Grewe. „Die Mitarbeiterin in der Telefonzentrale wird den halben Tag beschimpft für Dinge, für die sie nichts kann.“Die Amtsgerichte mussten von den Bezirksnotariaten ganze Aktenberge übernehmen, landesweit waren es nach Angaben des Justizministeriums 58 000 laufende Verfahren in den Bereichen Nachlass und Betreuung.
Mit Aktenzeichen zu kämpfen
„Es gab Amtsgerichte, von denen haben wir sechs M onate gar nichts mehr gehört“, bestätigt Hans Hammann, Fachanwalt für Erbrecht aus Reutlingen. Er muss sich ans Gericht wenden, wenn seine Klienten beispielsweise einen Erbschein beantragen wollen. Der ist in der R egel nötig, wenn ein Erbe etwa Grundbesitz umfasst. „Die Nachlassgerichte haben schon mit vermeintlichen Banalitäten wie der zum 1. Januar 2018 ebenfalls vollkommen neu geregelten Vergabe von einheitlichen Aktenzeichen zu kämpfen.“
Ein zentrales Problem: Die Computersysteme von Notariaten und Amtsgerichten sind nicht k ompatibel. Deswegen müssen Sachbearbeiter nun jede einzelne Akte neu erfassen, während der normale B etrieb weitergeht, und die Stapel mit neuen Akten wachsen. „Wir kommen nicht dazu, den Berg der Verfahren abzuarbeiten“, sagt Amtsrichter Grewe mit Blick auf die Nachlassangelegenheiten. „Im Augenblick haben wir noch nicht einmal einen v ollstä n digen Überblick.“Vom Justizministerium heißt es, die Amtsgerichte reagierten auf dieLage, indem sie dringliche Angelegenheiten priorisiert behandeln.
Allerdings: Wenn ein Erbfall komplizierter ist als normal, wenn etwa Vermögen im Ausland vorhanden ist oder wenn Testamente von anderen Gerichten angefordert werden müssen, dann dauert die Bearbeitung des Falles schnell noch länger als die derzeit üblichen fünf bis sechs Monate. Dann warten Erben auch schon mal ein Jahr auf die Bearbeitung des Falles. Trotzdem war es aus Sicht von Rechtsanwalt Hammann richtig, die Reform anzugehen. „Ich glaube, dass die Fristen wieder kürzer werden“, sagt der Jurist. „Und schließlich sind die meisten Verfahren doch unkompliziert. Nur die Übergangsphase ist eben sehr unbefriedigend.“Auch der FDP-Landtagsabgeordnete N ico Weinmann erwartet, dass das Justizministerium die Reform ohne große Änderungen durchzieht: „Es heiß t dort wohl ,Augen zu und dur ch’“, mutmaßt der rechtspolitische Sprecher der Oppositionsfraktion.
Etwas besser als im Bereich Nachlässe sieht es am Amtsgericht Ravensburg bei den B etreuungsangelegenheiten aus:Für diesen Bereich sind seit Juni immerhin alle alten Akten erfasst. 3000 Betreuungsfälle hat allein das Ravensburger Amtsgericht von den Notariaten der Umgebung übernommen. Hier sollen lange Wartezeiten möglichst v ermieden werden. Wenn etwa über die Fixierung einer Person bei Selbst gefährdung entschieden werden muss, dann darf es bis zu einer richterlichen Anordnung nicht lange dauern: „Betreuungssachen sind immer br andeilig“, sagt Grewe. „Da geht es um Grundrechte.“
Aus Sicht des Amtsgerichtsdirektors fehlte es in der Vorbereitung vor allem an Mitarbeitern. Hätte es mehr Personal gegeben, hätte man mit der Erfassung der alten Akten schon früher starten und dann zum 1 . Januar voll einsatzfähig sein können – das war aber nicht der Fall. „Wenn man vor künf tigen R eformprojekten steht, muss man sich darüber im Klaren sein, dass man dafür mehr Personal braucht“, so Grewe.
Mehr Vorlauf bei Grundbüchern
Länger war der Vorlauf bei der Reform der Grundbuchämter. Hier wurde die Zuständigkeit der zuvor 632 Grundbuchämter im Land nicht au f einen Schlag, sondern über einen Zeitraum von fünf J ahren auf nur noch 13 grundbuchführende Amtsgerichte übertragen. Wer etwa neu erworbenes Eigentum ins Grundbuch eintragen lassen möchte, muss allerdings auch hier mit Wartezeiten rechnen – wenn auch nicht in allen Regionen gleichermaßen. Wie aus der Antwort des Justizministeriums auf eine Anfrage der Landt ags-Grünen hervorgeht, hingen im er sten Quartal diesen Jahres insbesondere die Amtsgerichte Böblingen, Emmendingen und Ravensburg bei der Arbeit hinterher. Beim negativen Spitzenreiter Ravensburg waren pro Grundbuchsachbearbeiter 381 offene Verfahren anhängig – ein Wert, der sich nach Aussage v on Amtsgerichtsdirektor Grewe seit dem nicht stark geändert hat. Zur gleichen Zeit waren in Ulm nur 110 Verfahren und in Sigmaringen 88 Verfahren pro Sachbearbeiter offen. Linderung für die besonders belasteten Gerichte wird im November erwartet. Dann kommen die nächsten Absolventen der A usbildung zum Rechtspfleger von der Hochschule in Schwetzingen – in den Amtsgerichten werden sie schon sehnlichst erwartet.