Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Auf den Spuren von Frankensteins Monster
Ein weltweit bekannter Sohn Ingolstadts wird 200 Jahre alt – das Tourismusprogramm behandelt auch das Thema künstliche Intelligenz
INGOLSTADT (dpa) - Eine dunkle, regnerische Nacht, ein medizinisches Labor, Kerzenlicht, Leichenteile – und die Vision von einer Schöpfung, die eine neue Art begründen soll. Darum dreht sich die Schlüsselszene von Mary Shelleys Roman „Frankenstein“, erschienen vor genau 200 Jahren. Für viele ist die Geschichte der Beginn der Sparte Horror.
Den Ursprung hat die Geschichte aber in Oberbayern, genauer in Ingolstadt. Nun, zum Jubiläum, macht sich Ingolstadt zwischen engen Gassen und alten Mauern auf die Suche nach den Spuren des Monsters. Und beweist dabei, dass die Geschichte viel mehr kann, als zu gruseln – und dabei hochaktuell ist.
Shelley lässt den Horror ausgerechnet an einem Ort beginnen, der, heute zumindest, idyllischer nicht sein könnte. Das spätbarocke Gebäude der alten Anatomie in Ingolstadt liegt ruhig und würdevoll da. Dahinter, im Kräutergarten, streifen Besuchergruppen umher. Der Gärtner reinigt die Beete. Nur wenige Meter weiter aber wurden vor etwas mehr als 200 Jahren noch feierlich Leichen seziert, berichtet Stadtführerin Maria Pilz. Denn im sogenannten anatomischen Theater der ersten Landesuniversität wurde medizinische Pionierarbeit geleistet: Über die Galerie konnten Medizinstudenten dabei zusehen, wie im Erdgeschoss bei Geigenmusik der Professor in Frack und Zylinder die Vorschneider anwies, die Körper von Straftätern und Soldaten zu zerlegen. Die kamen ganz standesgemäß über ein Tischleindeck-dich-System angefahren.
Horrorgeschichte von 1816
Diese Arbeit und damit auch Ingolstadt sprach sich schnell auch über die Landesgrenzen hinweg herum. Nur wenige hatten es bis zu diesem Zeitpunkt gewagt, an toten Menschen herumzuschneiden, zu groß war die Angst vor dem Zorn der Kirche. Und so hörte vielleicht auch Mary Shelley von der Universität – obwohl sie selbst nie Ingolstadt besuchte. Und als alle Teilnehmer eines Schriftstellerkreises in den Schweizer Bergen im verregneten, kalten Sommer 1816 eine Horrorgeschichte schreiben sollten, da wählte die 19-jährige Shelley Ingolstadt als Ausgangspunkt. Die alte Anatomie war da aber schon jahrelang verwaist, die Universität samt Studenten erst nach Landshut, später nach München gezogen. Dennoch ließ Shelley ihre Figur, Viktor Frankenstein, in Ingolstadt Medizin studieren – und die Idee entwickeln, künstliches Leben zu erschaffen.
Und dennoch hat der Leser das Gefühl, mit Frankenstein durch Ingolstadt zu wandeln. So kann Stadtführerin Maria Pilz heute erahnen, in welcher Gasse Frankenstein vielleicht sein kleines Appartement gehabt haben soll und auf welchem Friedhof er im Roman die Leichenteile für seine Kreatur ausbuddelte.
Gruselführung im Dunkeln
Doch die Touristen – und auch so manche Einheimische – stört das wenig. Sie wandeln in Scharen bei Einbruch der Dunkelheit auf Gruselführungen auf den Spuren des Monsters durch die Stadt, auch wenn selbst der Tourismuschef Jürgen Amann sagt, dass es dabei zum großen Teil um Klamauk geht. „Sicherlich gibt es bestimmt jemand, der da die Nase rümpft und sagt, man darf keinen Zentimeter von der Historie abweichen“, sagt er. Er sieht das anders: „Man muss vor allem eine gute Geschichte erzählen.“
Das bedeutet aber nicht, dass das Programm nicht auch ernste Punkte umfasst. Ja, man bewirbt Monsterblut (Schnaps), Monsterpillen (Pfefferminzbonbons) und FrankensteinEis (ein leuchtend blutrotes Beerensorbet). Aber man hat auch erkannt, dass Frankensteins Vision, ein neues, besseres Leben zu erschaffen, aktueller ist denn je. Und deshalb wird das Thema weitergedacht, weitergetrieben. Auch dorthin, wo es Ingolstadt und den Ingolstädtern vielleicht manchmal etwas wehtut.
Das Stadttheater zum Beispiel stellte zum Thema einen futurologischen Kongress auf die Beine, bei dem Wissenschaft, Forschung, Technik und Kunst drei Tage lang die Verschmelzung von Mensch und Maschine thematisierten. Da tanzen Roboter Ballett und Zombies wandeln durch apokalyptische nukleare Wüsten. Autonomes Fahren, autonomes Töten und automatisiertes Denken – alles Themen, die nicht nur die Automobilstadt umtreiben, sondern auch verknüpft werden können mit Frankensteins – also Shelleys – Vision.
Schmunzeln muss man dennoch, angesichts der Tatsache, dass der Kongress sich als „IngolstadtDowntown-Projekt“bezeichnet. Denn für so manche Bürger in Ingolstadt, weiß auch Tourismuschef Amann zu berichten, bedeutet Kultur doch nichts anderes als Theater, Malerei und klassische Musik.
Zum Ende des Jahres wird es dann noch einmal ernst: Der Historiker Theodor Straub spricht über die Fantasie Frankensteins, dass der Mensch des Menschen Schöpfer sein könnte und sich so an Gottes Stelle setzt. Und darüber, wie diese Vision im 20. Jahrhundert scheiterte.