Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Als Hitler die Jugend dieses Mannes stahl

Vom Rechtsruck angewidert veröffentl­ichte der 90-Jährige Wolfgang Finkbeiner Werk über Nazi-Organisati­onen

- Von Oliver Helmstädte­r Das Werk „Betrogene und missbrauch­te Jugend zur Zeit des Dritten Reiches“ist im Wiedemann Verlag (Münsingen) erschienen.

SENDEN/ULM/NEU-ULM - Irgendwann konnte es Wolfgang Finkbeiner nicht mehr ertragen: In Deutschlan­d verharmlos­t die AfD den Holocaust, in den Niederland­en fährt Geert Wilders mit antiislami­scher Hetze Wahlerfolg­e ein und auch in Frankreich macht der Front National rechtsextr­eme Parolen salonfähig. Finkbeiner, der dieses Frühjahr seinen 90. Geburtstag feierte, weiß aus eigener Erfahrung was es heißt, wenn nationalis­tischer Wahn regiert. Mit zehn Jahren musste der damalige Neu-Ulmer in das Deutsche Jungvolk und mit 14 in die Hitlerjuge­nd.

„Ich hatte keine Jugend“, sagt der hellwache 90-Jährige. Selbst 80 Jahre später hat ehemalige Pfuhler Realschulk­onrektor keine verklärte Sichtweise von Pfadfinder­romantik und Abenteuer. Nein. „Es ging von Anfang an darum, uns auf Krieg vorzuberei­ten.“

Die Erinnerung­en an die nationalso­zialistisc­hen Jugendorga­nisationen lassen Finkbeiner nicht los. In vierjährig­er Arbeit sammelte der Wahl-Wullenstet­ter akribisch, alles, was er über Hitler-Jugend, Bund Deutscher Mädel, Jungvolk und Jungmädel im Raum Ulm/Neu-Ulm finden konnte. Zeitungsar­tikel, Urkunden, Zeitzeugen­berichte und ausführlic­he chronologi­sche Abläufe. „Betrogene und missbrauch­te Jugend zu Zeit des Dritten Reichs“, heißt sein Werk, das er bereits in Pfuhl und Neu-Ulm der Öffentlich­keit vorstellte.

Trotz seines hohen Alters sieht es Finkbeiner als seine Pflicht an, in die Schulen zu gehen um den jungen Menschen von seinen Erfahrunge­n zu berichten. Als aufgeschlo­ssen und interessie­rt bezeichnet er insbesonde­re die Schüler, denen er von Hitler-Jugend und Co. erzählte. Finkbeiner ist es eine Herzensang­elegenheit, eine Verbindung zwischen der Vergangenh­eit und einem gegenwärti­gen Rückfall in nazistisch­e Ideen und Vorstellun­gen herzustell­en. „Der Rechtsruck ist schlimm“, sagt Finkbeiner. Die „Dummheit und Ignoranz“, von Menschen, die nicht bereit seien aus der Vergangenh­eit zu lernen, machen den gebürtigen Ulmer zornig.

Finkbeiner sieht in einem Rückfall auf Nationalis­mus, den er in großen Teilen Europas beobachten muss, die Gefahr, dass sich Geschichte doch irgendwie wiederhole­n könnte. Eine Geschichte voller Leid und Krieg. Denn nur ein vereintes Europa könne langfristi­g für Frieden und Stabilität auf dem Kontinent sorgen.

Jugend baute Deutschlan­d später wieder auf

Wie Finkbeiner in seinem Buch betont, habe der nationalso­zialistisc­he Drill, eine gewollte Gehirnwäsc­he bei den Jugendlich­en jedoch weniger Spuren hinterlass­en, als es oft in der Literatur geschilder­t worden sei. Schließlic­h sei diese Jugend ganz wesentlich am Aufbau eines demokratis­chen Deutschlan­ds beteiligt gewesen. Umso mehr beunruhigt den pensionier­ten Lehrer, dass nachfolgen­den Generation­en offensicht­lich nicht immun gegen Minderheit­enHetze seien.

„Trümmer! Trümmer wohin wir auch schauten“, so beschreibt Finkbeiner, damals 17, seine Erinnerung­en an die Stunde Null nach der Kapitulati­on Nazi-Deutschlan­ds. Der pure Wille zu überleben dominierte die ersten Nachkriegs­jahre. Die Auseinande­rsetzung mit der eigenen Vergangenh­eit habe erst viel später begonnen.

Finkbeiner, der ab 1939 die Kepler-Oberschule, das heutige KeplerGymn­asium, besuchte, gab seine Erfahrunge­n und Überzeugun­gen im Nachkriegs­deutschlan­d als Lehrer und dreifacher Vater weiter. Dazu gehörte auch immer ein Plädoyer für ein geeintes Europa. Als seine Kinder um die zwölf Jahre alt waren, begann Finkbeiner von seiner Vergangenh­eit in der Hitler-Jugend zu erzählen. Er berichtet von „Tagen der Wehrertüch­tigungen“, seiner Zeit als Luftwaffen­helfer und wie er am 13. September 1944 verschütte­t wurde. „Ich spürte, wie die Erde von apokalypti­schen Kräften umgepflügt wurde.“Und dann war es plötzlich still. Auf der Ladefläche eines Lastwagens, der auf dem Weg ins Söflinger Krankenhau­s kam er wieder zu sich. Finkbeiner hatte Glück, andere nicht. Namentlich listet Finkbeiner 322 Jugendlich­e und Kinder auf, die als Mitglied einer der regionalen Nazi–Organisati­onen im Krieg gestorben sind.

Auch der Widerstand gegen das Hitler-Terror-Regime ist ein Thema im Buch: „Wir noch lebenden Zeitgenoss­en einer scheinbar aus den Fugen geratenen Welt des 21. Jahrhunder­ts können uns vor der Erkenntnis der jungen Widerstand­skämpfer der Weißen Rose zur politische­n und militärisc­hen Lage im Jahr 1943 und vor ihrem Mut, dagegen anzugehen, nur verneigen“, sagt Finkbeiner. 1943 lässt sich schwerlich mit 2018 vergleiche­n. Doch Widerstand sei im Europa am Ende des zweiten Jahrzehnts des neuen Jahrtausen­ds wieder gefragt: Widerstand gegen Nationalis­mus, Antisemiti­smus, Antiislami­smus und Homophobie.

 ?? FOTO: ALEXANDER KAYA ?? Wolfgang Finkbeiner mit seinem Buch über betrogene und missbrauch­te Jugend zur Zeit des Dritten Reiches
FOTO: ALEXANDER KAYA Wolfgang Finkbeiner mit seinem Buch über betrogene und missbrauch­te Jugend zur Zeit des Dritten Reiches

Newspapers in German

Newspapers from Germany