Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Als Hitler die Jugend dieses Mannes stahl
Vom Rechtsruck angewidert veröffentlichte der 90-Jährige Wolfgang Finkbeiner Werk über Nazi-Organisationen
SENDEN/ULM/NEU-ULM - Irgendwann konnte es Wolfgang Finkbeiner nicht mehr ertragen: In Deutschland verharmlost die AfD den Holocaust, in den Niederlanden fährt Geert Wilders mit antiislamischer Hetze Wahlerfolge ein und auch in Frankreich macht der Front National rechtsextreme Parolen salonfähig. Finkbeiner, der dieses Frühjahr seinen 90. Geburtstag feierte, weiß aus eigener Erfahrung was es heißt, wenn nationalistischer Wahn regiert. Mit zehn Jahren musste der damalige Neu-Ulmer in das Deutsche Jungvolk und mit 14 in die Hitlerjugend.
„Ich hatte keine Jugend“, sagt der hellwache 90-Jährige. Selbst 80 Jahre später hat ehemalige Pfuhler Realschulkonrektor keine verklärte Sichtweise von Pfadfinderromantik und Abenteuer. Nein. „Es ging von Anfang an darum, uns auf Krieg vorzubereiten.“
Die Erinnerungen an die nationalsozialistischen Jugendorganisationen lassen Finkbeiner nicht los. In vierjähriger Arbeit sammelte der Wahl-Wullenstetter akribisch, alles, was er über Hitler-Jugend, Bund Deutscher Mädel, Jungvolk und Jungmädel im Raum Ulm/Neu-Ulm finden konnte. Zeitungsartikel, Urkunden, Zeitzeugenberichte und ausführliche chronologische Abläufe. „Betrogene und missbrauchte Jugend zu Zeit des Dritten Reichs“, heißt sein Werk, das er bereits in Pfuhl und Neu-Ulm der Öffentlichkeit vorstellte.
Trotz seines hohen Alters sieht es Finkbeiner als seine Pflicht an, in die Schulen zu gehen um den jungen Menschen von seinen Erfahrungen zu berichten. Als aufgeschlossen und interessiert bezeichnet er insbesondere die Schüler, denen er von Hitler-Jugend und Co. erzählte. Finkbeiner ist es eine Herzensangelegenheit, eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und einem gegenwärtigen Rückfall in nazistische Ideen und Vorstellungen herzustellen. „Der Rechtsruck ist schlimm“, sagt Finkbeiner. Die „Dummheit und Ignoranz“, von Menschen, die nicht bereit seien aus der Vergangenheit zu lernen, machen den gebürtigen Ulmer zornig.
Finkbeiner sieht in einem Rückfall auf Nationalismus, den er in großen Teilen Europas beobachten muss, die Gefahr, dass sich Geschichte doch irgendwie wiederholen könnte. Eine Geschichte voller Leid und Krieg. Denn nur ein vereintes Europa könne langfristig für Frieden und Stabilität auf dem Kontinent sorgen.
Jugend baute Deutschland später wieder auf
Wie Finkbeiner in seinem Buch betont, habe der nationalsozialistische Drill, eine gewollte Gehirnwäsche bei den Jugendlichen jedoch weniger Spuren hinterlassen, als es oft in der Literatur geschildert worden sei. Schließlich sei diese Jugend ganz wesentlich am Aufbau eines demokratischen Deutschlands beteiligt gewesen. Umso mehr beunruhigt den pensionierten Lehrer, dass nachfolgenden Generationen offensichtlich nicht immun gegen MinderheitenHetze seien.
„Trümmer! Trümmer wohin wir auch schauten“, so beschreibt Finkbeiner, damals 17, seine Erinnerungen an die Stunde Null nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands. Der pure Wille zu überleben dominierte die ersten Nachkriegsjahre. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit habe erst viel später begonnen.
Finkbeiner, der ab 1939 die Kepler-Oberschule, das heutige KeplerGymnasium, besuchte, gab seine Erfahrungen und Überzeugungen im Nachkriegsdeutschland als Lehrer und dreifacher Vater weiter. Dazu gehörte auch immer ein Plädoyer für ein geeintes Europa. Als seine Kinder um die zwölf Jahre alt waren, begann Finkbeiner von seiner Vergangenheit in der Hitler-Jugend zu erzählen. Er berichtet von „Tagen der Wehrertüchtigungen“, seiner Zeit als Luftwaffenhelfer und wie er am 13. September 1944 verschüttet wurde. „Ich spürte, wie die Erde von apokalyptischen Kräften umgepflügt wurde.“Und dann war es plötzlich still. Auf der Ladefläche eines Lastwagens, der auf dem Weg ins Söflinger Krankenhaus kam er wieder zu sich. Finkbeiner hatte Glück, andere nicht. Namentlich listet Finkbeiner 322 Jugendliche und Kinder auf, die als Mitglied einer der regionalen Nazi–Organisationen im Krieg gestorben sind.
Auch der Widerstand gegen das Hitler-Terror-Regime ist ein Thema im Buch: „Wir noch lebenden Zeitgenossen einer scheinbar aus den Fugen geratenen Welt des 21. Jahrhunderts können uns vor der Erkenntnis der jungen Widerstandskämpfer der Weißen Rose zur politischen und militärischen Lage im Jahr 1943 und vor ihrem Mut, dagegen anzugehen, nur verneigen“, sagt Finkbeiner. 1943 lässt sich schwerlich mit 2018 vergleichen. Doch Widerstand sei im Europa am Ende des zweiten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends wieder gefragt: Widerstand gegen Nationalismus, Antisemitismus, Antiislamismus und Homophobie.