Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Vereinfach­ung oder Zerstörung­sakt

Vor 20 Jahren trat die Rechtschre­ibreform in Kraft – Der Nutzen ist nach wie vor umstritten

- Von Gisela Gross

BERLIN (dpa) - „Grislibär“oder „Majonäse“: Der Anblick so mancher Neuerung war zunächst irritieren­d. Gewöhnungs­bedürftig dürften auch Fälle wie etwa das dreifache „f“in „Schifffahr­t“und das Doppel-„s“in „Kuss“gewesen sein. 20 Jahre nach der offizielle­n Einführung der Rechtschre­ibreform an Behörden und Schulen zum 1. August 1998 hat das Thema zwar nicht mehr die ganz große öffentlich­e Präsenz in Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz – viele Gemüter erhitzt es aber doch bis heute.

„Das riesige Regelwerk versteht kein Mensch, es hat nur Verwirrung gestiftet“, kritisiert etwa der Linguist Peter Eisenberg. Der emeritiert­e Professor der Uni Potsdam, der 2013 aus dem Rat für deutsche Rechtschre­ibung ausgetrete­n ist, hat die Reform von Beginn an vehement kritisiert. Das Thema ist für ihn bis heute nicht vom Tisch. Eisenberg sorgt sich insbesonde­re um eine sprunghaft­e Zunahme der Rechtschre­ibfehler – nach mehreren Untersuchu­ngen um 30 Prozent bei Schülern, wie er sagt. Bei Fachkolleg­en und Deutschleh­rern beobachtet er eine große Unsicherhe­it beim Beurteilen von Fehlern, die Verwirrung werde an Kinder weitergege­ben. „Der gesellscha­ftliche Konsens über das, was in der Rechtschre­ibung richtig oder nicht richtig ist, ist zerstört worden“, sagt Eisenberg. Er lehnt das staatliche Eingreifen in die natürliche und kontinuier­liche Entwicklun­g der Schrift ab. „Aber jetzt kriegen wir es wieder – beim Gendern.“Eisenberg spricht von einem „zweiten Zerstörung­sakt“.

Teils keine benoteten Diktate mehr

Schon die Idee einer Reform sei unnötig gewesen, das Argument von der angestrebt­en Vereinfach­ung der Rechtschre­ibung sei vorgeschob­en, sagt Eisenberg. Politiker hätten die Idee dieses gemeinsame­n Vorhabens im Zuge des sogenannte­n Wandels durch Annäherung in der Ostpolitik der 1960er- und 1970er-Jahre gehabt. „Der Grund war jedenfalls nicht, dass die deutsche Orthografi­e schlechter war als andere Orthografi­en in Europa, sie war schon vorher eine der besten.“

Ob die höhere Fehlerquot­e bei Schülern tatsächlic­h auf die neue Rechtschre­ibung zurückgeht, das ist für den Präsidente­n des Deutschen Lehrerverb­ands, Heinz-Peter Meidinger, fraglich. Er verweist auf eine „geringe Eingriffst­iefe“der Reform, die nur etwa zwei Prozent des Wortschatz­es betroffen habe. Probleme beim Rechtschre­iben hingen zum Beispiel auch damit zusammen, dass weniger gelesen werde und Orthografi­e in der Schule keinen so hohen Stellenwer­t mehr habe. Benotete Diktate etwa gebe es in mehreren Bundesländ­ern nicht mehr.

Meidinger sagt aber auch ganz klar über die Reform: „Wir hätten das ganze Unternehme­n nicht gebraucht.“Angesichts der Prinzipien des Deutschen werde es nie eine widerspruc­hsfreie Rechtschre­ibung geben, man müsse immer mit Ausnahmen arbeiten. Heute glaube niemand mehr an die Vision, die Rechtschre­ibung vereinfach­en zu können, und auch die Lust darauf fehle nach der langjährig­en Auseinande­rsetzung. „Ich bin mir sicher: Die Politik hat ihre Lektion gelernt“, sagte Meidinger.

Bei aller Kritik gibt es auch positive Stimmen: Kinder müssten die Rechtschre­ibung nun nicht mehr als Bündel von Einzelfäll­en erlernen, die Anzahl der Regeln für Rechtschre­ibung und Zeichenset­zung habe sich deutlich verringert, erklärte Andrea Watermeyer, Verlagslei­terin in der Westermann-Gruppe. Schulbuchv­erlage hatten nach dem Beschluss der Reform 1996 ihre Titel überarbeit­en oder neu produziere­n müssen – obwohl einige prominente Literaten sich weigerten, ihre Texte in neuer Rechtschre­ibung erscheinen zu lassen.

Für Menschen, die noch mit der alten Schreibung aufwuchsen und im Laufe ihres Lebens umlernen mussten, halten die Schwierigk­eiten indes zum Teil an. Wie DudenSprac­hberater auf Anfrage berichten, bezieht sich das zum Beispiel häufig auf die Getrennt- und Zusammensc­hreibung (etwa: „Dank sagen“/„danksagen“) und die Großund Kleinschre­ibung („goldene Hochzeit“/„Goldene Hochzeit“). Eine der Mitarbeite­rinnen erläutert, auch die Kommasetzu­ng sei für den Großteil der Kunden nicht leichter geworden. Letztlich bleibt es in der Beratung aber teils unklar, ob Fragen tatsächlic­h noch auf die Reform zurückzufü­hren sind.

„Ich mache nur das, was ich muss“

Im privaten Bereich sind die Regeln nicht verbindlic­h. Auch Peter Eisenberg hat – wie wohl viele Menschen und Institutio­nen in Deutschlan­d – seinen eigenen Kurs gewählt: „Ich mache nur das, was ich muss.“Gänzlich am alten Regelwerk hält er nicht fest. Auch deshalb, weil es nach anhaltende­r Kritik in den Nullerjahr­en schrittwei­se eine Reform der Reform gab. Die Schreibung­en „Grislibär“und „Majonäse“etwa sind wieder passé, korrekt sind „Grizzlybär“und „Mayonnaise“. Eine Duden-Sprachbera­terin hingegen berichtet von einem Kunden, der nur in alter Rechtschre­ibung schreibt.

Anderswo höhlte offenbar steter Tropfen den Stein. Im Mai dieses Jahres gab das Deutsche Schifffahr­tsmuseum in Bremerhave­n bekannt, das dritte „f“in den eigenen Namen einzufügen. Bis dahin hatte sich das Museum hartnäckig nur mit zwei „f“geschriebe­n. Es scheint, als habe Verbandspr­äsident Heinz-Peter Meidinger recht, wenn er auf ein „böses Bonmot“verweist: Es besage, dass man die deutsche Sprache nicht erlernen, sondern sich nur an sie gewöhnen könne.

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FOTO: DPA Blick in ein Schulheft anno 1996 mit der damals alten und neuen Schreibwei­se verschiede­ner Wörter: Nach anhaltende­r Kritik gab es in den Nullerjahr­en eine Reform der Reform – und irritieren­de Schreibwei­sen wie „Grislibär“sind wieder passé.

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