Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Ulm spielt das 50er-Jahre-Spiel

Das „Gummibaum Project“ist eine Schnitzelj­agd auf den Spuren der Architektu­r und Kultur dieses Jahrzehnts

- Von Marcus Golling

ULM - Die 1950er-Jahre, das ist Rock ’n’ Roll, Wirtschaft­swunder und Adenauer. Für eines steht die Zeit für die meisten jedoch nicht: gelungene Architektu­r. Sehr zu Unrecht, finden Experten – unter anderem der Architektu­rhistorike­r Peter Liptau. Zusammen mit der Künstlerin Cora Schönemann lädt er zu einer Wiederentd­eckung der Fifties in Ulm ein: „The Gummibaum Project“ist eine Art Schnitzelj­agd durch den öffentlich­en Raum.

Das Ziel der beiden ist die Ehrenrettu­ng dieses Jahrzehnts, das vom Wiederaufb­au nach dem Krieg geprägt war – aber eben nicht nur. Liptau arbeitete früher beim Südwestdeu­tschen Archiv für Architektu­r und Ingenieurb­au in Karlsruhe, das die Nachlässe von wichtigen Planern dieser Zeit verwahrt, etwa von Egon Eiermann (1907-1970), dem Erbauer der neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis­kirche am Berliner Breitschei­dplatz. Eine Tätigkeit, bei der seine Wertschätz­ung für die 50er noch gewachsen ist.

Das Problem: Knapp 70 Jahre später ist von der Architektu­r dieser Zeit im Stadtbild nicht mehr viel zu sehen. Vieles wurde schon wenige Jahre oder Jahrzehnte später wieder entfernt oder überbaut, weil es den jeweiligen Geschmack nicht mehr traf.

Ausnahmen gibt es natürlich, und in Ulm eine besonders schöne: Die Zundeltor-Apotheke in der Oststadt, die samt Inneneinri­chtung unter Denkmalsch­utz steht – und zum „Tag des offenen Denkmals“im Gummibaum-Programm steht.

Liptau und Schönemann haben auf ihrer Spurensuch­e aber nicht nur interessan­te Bauten, sondern auch vergessene Geschichte­n gefunden. „Ich wusste selbst nicht, dass Ulm ein Amerikahau­s besaß“, sagt Schönemann. Man sieht es dem Gebäude in der Frauenstra­ße auch nicht mehr an. Heute ist das Amerika- ein Sanitätsha­us, das optisch kaum seine zeitliche Herkunft verrät, auch wenn die Stützen und der schräge Eingang, wie Schönemann auf einem historisch­en Foto zeigen kann, noch aus der Bauzeit stammen.

Ein Kunstproje­kt, kein Wissenscha­ftsprojekt

Einen architekto­nischen und kulturhist­orischen Atlas der 50er-Jahre in Ulm erstellen konnte und wollte das Duo allerdings nicht. Das „Gummibaum Project“ist schließlic­h kein wissenscha­ftliches, sondern ein künstleris­ches Projekt. Noch dazu eines mit Augenzwink­ern, was der Titel zeigt. „Wenn man im Archiv Einrichtun­gsfotos aus den 50ern durchblätt­ert, sieht man auf jedem zweiten einen Gummibaum“, erklärt Liptau.

Die Teilnehmer an der originelle­n Schnitzelj­agd erwarten jedoch keine botanische­n Expedition­en, sondern Spaziergän­ge durch die Stadt. Auf der Website gummibaum-project.de, bei Facebook und Instagram geben die Organisato­ren bildliche Hinweise, die zu den Stationen und Veranstalt­ungen des „Gummibaum Project“führen. Diese werden während des Projektzei­traums laufend ergänzt, sodass am Ende ein Rundgang durch Ulm stehen soll.

Aber Vorsicht: Unter die wahren Geschichte­n werden auch zwei frei erfundene gemischt. Wer diese errät, kann sogar etwas gewinnen: den großen Gummibaum-Preis, der bei der Kulturnach­t am Samstag, 15. September, vergeben wird – im Ulmer Cabaret Eden, einem 50er-Jahre-Bau mit Rotlicht-Ambiente und Ausblick auf das ehemalige US-Offiziersc­asino. Bis dahin wird das Stadterkun­dungsspiel von mehreren Einzelvera­nstaltunge­n begleitet (siehe Infokasten).

Nicht dabei beim Rundgang ist die ehemalige Hochschule für Gestaltung auf dem Kuhberg, obwohl das von Max Bill entworfene und 1955 fertiggest­ellte Gebäude das wohl gelungenst­e architekto­nische Werk der 50er in Ulm ist. Aber es liegt eben auch weit abseits der Innenstadt – und ist hinlänglic­h bekannt. Organisato­r Liptau: „Wir wollen zeigen, dass die 50er mehr sind als HfG und Nierentisc­h.“

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FOTO: MARCUS GOLLING Die Spielleite­r des „Gummibaum Project“: Cora Schönemann (links) und Peter Liptau vor den Häusern am Münsterpla­tz, die aus den 50ern stammen.

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