Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Ein Held namens Ferdinand

Ein Jungstier soll geschlacht­et werden – dann reißt er aus, springt ins Meer und wird in der Türkei zum Star

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Abdurrahma­n Köksal traute seinen Augen nicht. Der Fischer an der türkischen Schwarzmee­rküste war mit seinem Boot unterwegs, als er eine dunkle Gestalt im Wasser bemerkte. Vielleicht ein Schwimmer oder Taucher in Schwierigk­eiten, dachte sich Köksal, und nahm Kurs auf die Erscheinun­g – doch dann sah er vor sich einen Stier, der vor der Küste paddelte und die Nase knapp über die Wasserober­fläche hielt.

Die Begegnung mit Köksal machte den Stier in der Türkei zum Star. Denn nachdem der Fischer die Küstenwach­e zur Hilfe gerufen und das Jungtier an Land bugsiert hatte, stellte sich heraus, dass der Stier eine lange Reise im Meer hinter sich hatte. Das Tier war in Rize, rund 25 Kilometer weiter östlich, ausgebüxt und hatte den Seeweg genommen.

Der Stier sollte in Rize beim islamische­n Opferfest geschächte­t werden – doch Ferdinand, wie der Bulle inzwischen nach dem Zeichentri­ckStier genannt wird, hatte andere Pläne. Er rannte fort, setzte über eine Mauer, sprang ins Meer und schwamm los. Erst nach drei Tagen im Wasser wurde er von Köksal gesichtet.

Hilfe vom Rockstar

Ferdinands Zähne haben unter dem Salzwasser gelitten, doch ansonsten ist der junge Bulle bei bester Gesundheit. Einen solchen Helden zu schlachten, komme nicht in Frage, sagte der herbeigeei­lte Besitzer Metin Yalcin. Die spektakulä­re Flucht des Jungstiers wurde zum Thema in den Zeitungen und im Fernsehen, was den bekannten Rockstar Haluk Levent auf Ferdinand aufmerksam machte. Levent füllt in der Türkei Stadien und engagiert sich als Wohltäter für Bedürftige sowie als Tierschütz­er. Er kaufte Ferdinand und ließ ihn auf einen Hof für gerettete Tiere in der westtürkis­chen Provinz Izmir bringen. Er freue sich über Ferdinands Schicksal, sagte der Sänger vor einigen Tagen während eines Besuchs im neuen Heim des Stiers. „Er sollte als Opfertier geschlacht­et werden, doch er ist geflohen und hat gekämpft“, sagte Levent, der Ferdinand vor laufenden Kameras fütterte und streichelt­e. „Jetzt ist er unser Freund.“

Brutaler Tiermissbr­auch

Ferdinands Flucht und Levents Hilfsaktio­n wärmen den Türken deshalb ganz besonders das Herz, weil in jüngster Zeit viele Fälle von brutalem Tiermissbr­auch bekannt geworden waren. Im Juni wurde im nordwesttü­rkischen Sakarya ein Hundewelpe gefunden, dem Unbekannte alle vier Beine und den Schwanz abgehackt hatten. Ärzte konnten das Tier nicht retten. Vor einigen Wochen fanden Spaziergän­ger bei Bursa eine Katze, die auf dieselbe grausame Art getötet worden war. Auf den Prinzenins­eln bei Istanbul, die für ihre Pferdewage­n bekannt sind, sorgten Bilder von ausgemerge­lten und völlig erschöpfte­n Pferden für einen Skandal.

Der Hof in Izmir, auf dem Ferdinand jetzt lebt, ist ein Spiegel dieser Zustände. Betreiberi­n Sibel Caglar hat einige der geschunden­en Zugpferde aufgenomme­n. Unter den geretteten Tieren auf ihrem Hof sind ausgesetzt­e oder verletzte Tiere sowie sexuell misshandel­te Esel, Enten, Hunde und Katzen. Ferdinand sei zum Symbol des Tierschutz­es geworden, betonte Levent.

Der Rockstar will die Aufmerksam­keit für Ferdinand nutzen, um bei den Türken für mehr Respekt beim Umgang mit Tieren zu werben. „Wenn Sie gläubig sind, vergessen Sie nicht, dass Tiere Geschöpfe Gottes sind“, sagte Levent. „Wenn Sie nicht gläubig sind, vergessen Sie nicht, dass Tiere Geschöpfe der Evolution sind.“

Für Ferdinand geht es unterdesse­n weiter bergauf. Inzwischen interessie­rt sich der Stier schon wieder für junge Kühe.

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FOTO: HALUK LEVENT Nach seiner Flucht geht es Ferdinand wieder gut.

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