Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Noch mehr Mut zu MINT erwünscht
In den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik wächst die Zahl der Studierenden auch im Südwesten – aber längst nicht schnell genug, um den künftigen Bedarf an Fachkräften zu decken
Dass das rohstoffarme Deutschland seinen Wohlstand insbesondere dem Export zu verdanken hat und dieser wiederum seine Erfolge vor allem dem hohen Stand der Technik, ist eine kaum bestrittene Tatsache. Aber es kommt Besorgnis auf. Wie lange wird die deutsche Industrie ihren technischen Vorsprung gegenüber den aufstrebenden Nationen der Welt, besonders Asiens, noch halten können? Viele Fachleute machen ihre diesbezüglichen Sorgen am angeblich zu geringen Interesse junger Menschen an einem Studium der sogenannten MINT-Fächer fest. Das Kürzel MINT steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.
Im Fach Maschinenbau ist die Tendenz leicht rückläufig
Ein erster Blick in die einschlägigen Statistiken könnte diese Sorgen als übertrieben erscheinen lassen. Doch es bedarf eines zweiten und einer Interpretation. Aber erfreulich ist es auf jeden Fall, dass die Zahl der Studierenden in MINT-Fächern an den Hochschulen Baden-Württembergs seit Jahren kontinuierlich steigt. Von 2000/01 bis 2016/17 (jeweils Wintersemester) hat sich diese Zahl auf 160 405 sogar mehr als verdoppelt, und auch seit 2006/07 kam es noch zu einer stolzen Zunahme um 54 Prozent. Geringer, aber auch noch spürbar fiel die Steigerung etwa bei den Studierenden der Chemie (2006 bis 2016 um 34 Prozent auf etwa 37 500) und der Mathematik aus (2005 bis 2015 um 24 Prozent auf rund 41 000). Bei den Maschinenbaustudenten und -studentinnen hat sich zwar zwischen 2006 und 2016 auch noch ein beachtlicher Zuwachs um 60 Prozent auf 118 600 ergeben. Seit 2013 herrscht aber nahezu eine Stagnation, von 2015 auf 2016 kam es sogar zu einem leichten Rückgang von gut einem Prozent. Diese Zahlen für die Studierenden der Mathematik, der Chemie und des Maschinenbaus beziehen sich auf ganz Deutschland. Der Grund, weshalb beim Maschinenbau, der lange Zeit als das technische Studium schlechthin galt, inzwischen kein wachsendes Interesse mehr festzustellen ist, liegt auf der Hand. Die Arbeit des Maschinenbau-Ingenieurs ist an eine Materie gebunden, an Eisen, Stahl und Metall vor allem. Aber bei diesen zeichnen sich teilweise dramatische Veränderungen ab. Das Elektroauto als Fahrzeug der Zukunft beispielsweise braucht eine ganze Reihe von Komponenten nicht mehr, die heute im Auto mit Verbrennungsmotor noch unverzichtbar sind.
Deutlich steigender Beliebtheit erfreut sich das Studium der Informatik. Hier hat sich deutschlandweit die Zahl der Studierenden von 2006/07 bis 2016/17 um 57 Prozent auf 110 100 erhöht. Fachleute erklären diese positive Entwicklung nicht zuletzt mit den sehr vielfältigen Einsatzmöglichkeiten für Informatiker. Im Zeitalter rasant fortschreitender Digitalisierung gibt es so gut wie keine Branche mehr, die ohne den Sachverstand des Informatikers auskommt.
Im Vergleich zur Betriebswirtschaft nur gut halb so viel MINT-Studierende
Die insgesamt ansehnlichen Zuwachsraten bei den Studierenden der MINT-Fächer relativieren sich allerdings erheblich, wenn man die ihnen zugrunde liegenden Basiszahlen mit denen anderer Fächer, insbesondere der Betriebswirtschaftslehre, vergleicht. So lag 2016/17 in Baden-Württemberg die Zahl der Studierenden des trotz Stagnation immer noch beliebtesten MINT-Faches Maschinenbau mit 19 080 nur bei gut der Hälfte der entsprechenden Zahl der Betriebswirtschaftslehre (36 335). Die Informatik kam auf 13 597, die Elektrotechnik/Elektronik auf 8950, die Chemie und Physik gerade mal auf 6769 und 6057 Studierende. An diesen Vergleichszahlen wird auch deutlich, dass die Zuwächse bei den Studierenden der MINT-Fächer zwar erfreulich sind, aber eben nicht ausreichen werden, um den künftigen hohen Bedarf an Absolventen dieser Fachrichtungen zu decken.
Das sehr unterschiedliche Interesse der Studienanfänger an den angebotenen Fachrichtungen beschäftigt auch stark die Hochschulen, wie das Beispiel der Hochschule Ravensburg-Weingarten zeigt. Dort hatten sich für das bewerbungsstärkste Wintersemester 2013/14 für 58 Bachelor-Studienplätze im Fach Betriebswirtschaftslehre 1683 Interessenten beworben. Um die 51 angebotenen Studienplätze in der Sozialen Arbeit bewarben sich sogar 2093 junge Frauen und Männer.
Englischsprachiger Studiengang Elektrotechnik sehr gefragt
Demgegenüber gingen lediglich 67 Bewerbungen für die 30 Elektrotechnik-Studienplätze ein. Dennoch konnten diese nicht vollständig besetzt werden, weil nicht alle Bewerber tatsächlich geeignet waren und sich unter den 67 Bewerbungen auch Mehrfach- und Doppelbewerbungen befanden. Wie Rektor Professor Dr. Thomas Spägele im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“ausführte, ergab sich aber bereits im darauffolgenden Sommersemester ein anderes Bild. Inzwischen hatte die Hochschule einen englischsprachigen Elektrotechnik-Studiengang eingerichtet, und für die 30 angebotenen Plätze bewarben sich 236 Interessenten aus vielen Ländern. Diese ausländischen Studierenden sind auch sehr geschätzt, vor allem wenn die Aussicht besteht, dass sie auch nach dem Studium zumindest noch einige Zeit in Deutschland bleiben und damit den Mangel an akademisch gebildeten technischen Fachkräften mildern helfen.
Schülern die Scheu vor der Mathematik nehmen
Aber was sind die Gründe dafür, dass sich nicht deutlich mehr deutsche Schulabgänger für ein Studium der zukunftsträchtigen MINTFächer entscheiden? Einer davon dürfte sein, dass diese Studiengänge als besonders anstrengend gelten, sicher auch zu Recht. Es trifft auch zu, dass das Studium eines MINT-Faches eine gewisse Vorbildung in Mathematik voraussetzt, die so nicht immer gegeben ist. Professor Spägele hat jedoch Zweifel an der weit verbreiteten Auffassung, dass Mathematik nur Begabungssache sei. Zwar erforderten schwierige mathematische Fragestellungen schon eine gewisse „abstrakte Intelligenz“, aber durch Übung und Fleiß lasse sich auch in diesem Fach viel erreichen. Spägele stimmt allerdings nicht in den Chor ein, der den Schulen hier Versäumnisse vorwirft. Er sieht in diesem Zusammenhang vielmehr ein gesellschaftliches Problem, das sich in einer oftmals mangelnden Anerkennung der Technik ausdrückt. Technik gelte nicht bei allen Jugendlichen als „trendig und schick“, auch wenn die Anwendungen ausnahmslos alle benutzten – zumindest im mobilen Bereich. Zudem habe sich im Bewusstsein der Bevölkerung die humanistische Bildung nie durch die MINT-Fächer definiert.
Potenzial der Frauen in den Fächern bei Weitem nicht ausgeschöpft
Wenn Rektor Spägele damit recht hat, und sehr viel spricht dafür, dann muss es hier zu einer Bewusstseinsänderung entsprechend der heutigen Realität der Bildung und den Anforderungen an diese kommen. Dazu wäre ein gesellschaftlicher Diskurs über dieses Thema dringend notwendig, den die Politik anregen, positiv begleiten – nicht nur verbal, sondern auch materiell – und vielleicht sogar moderieren sollte. Bedauerlich ist freilich, dass ein nicht geringes Potenzial zur Steigerung der Studierendenzahlen in den MINT-Fächern bei Weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Bei den Studierenden der Informatik beispielsweise sind die Frauen mit einem Anteil von 18 Prozent (Wintersemester 2016/17) hoffnungslos unterrepräsentiert. Auch darin zeigt sich ein gesellschaftliches Problem. Das alte Rollenbild der Frau, die mit der Technik nichts am Hut hat, sondern in Schule und Studium vor allem für das Schöngeistige zuständig ist, steckt offensichtlich immer noch in den Köpfen vieler Menschen, obwohl es seine Berechtigung längst verloren hat – und es inzwischen viele herausragende Gegenbeispiele gibt, wie auch die folgenden Seiten zeigen. Angesichts der rasanten Entwicklungen in immer mehr Ländern der Welt kann sich Deutschland die Pflege veralteter Rollenbilder jedenfalls nicht mehr lange leisten.