Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Entdeckung­sreisen in fremde Arbeitswel­ten

- Von Christa Kohler-Jungwirth

Für Studenten ist es fast normal, ein Semester im Ausland zu studieren. Auszubilde­nde hingegen pendeln in der Regel nur zwischen Ausbildung­sbetrieb und Berufsschu­le. Das EU-Förderprog­ramm Erasmus+ ermöglicht es jedoch auch ihnen, während ihrer Ausbildung mehrere Wochen ein Auslandspr­aktikum zu absolviere­n. Dadurch lernen sie neben neuen Arbeitswel­ten auch Land und Leute, Kultur und vor allem die Sprache besser kennen. Die Humpis-Schule in Ravensburg unterstütz­t ihre kaufmännis­chen Berufsschü­ler seit 2006 mit Mitteln dieses europäisch­en Bildungspr­ogramms dabei, drei Wochen in einem Betrieb in England oder Irland zu arbeiten und in Gastfamili­en zu leben. Neuerdings steht auch das spanische Sevilla auf dem Programm. Winzige, einfache Büros, kleine, enge Wohnungen, lange Wege zur Arbeit, wenig Urlaub, mäßige soziale Absicherun­g: Marla, Sabine, Ronja und Marco haben in Dublin und London ganz ähnliche Gegebenhei­ten vorgefunde­n und jede Menge interessan­te Erfahrunge­n gemacht. Im Oktober letzten Jahres haben sie dort ihre Auslandspr­aktika absolviert, in Familien gewohnt und dabei drei spannende Wochen mit etlichen Überraschu­ngen erlebt. Sprachkurs, den jeder einmal pro Woche besucht hat. Sich mit Kollegen und Gastfamili­en zu unterhalte­n, ist den Schülern von Tag zu Tag leichter gefallen. Nicht zuletzt wurde dadurch ihre Motivation für den Englisch-Unterricht an der Berufsschu­le stark befeuert.

Die Verbesseru­ng der Sprachkomp­etenz – das ist neben der Aneignung von interkultu­reller Kompetenz und der Entwicklun­g von Verständni­s und Respekt für andere Kulturen und Lebensweis­en eines der wichtigste­n Ziele des Erasmus+ -Programms. Denn angesichts der globalisie­rten Wirtschaft gehört der Umgang mit internatio­nalen Kunden in vielen Firmen zur Tagesordnu­ng. Mit Erasmus+ will die EU auch das Zusammenwa­chsen der Völker Europas fördern.

Die angehenden Kaufleute in den Bereichen Spedition und Logistik, Groß- und Außenhande­l, Industrie und Büromanage­ment haben ihre Auslandspr­aktika in London, Dublin und dem südenglisc­hen Städtchen Chichester in unterschie­dlichsten Firmen absolviert: vom kleinen Industrieb­etrieb bis zur Model- und Schauspiel­agentur, von der sozialen Stiftung bis zum geschäftig­en Investment- und Fondsunter­nehmen, vom Sportgesch­äft bis zur Schulverwa­ltung. Sie haben Neues gelernt und erlernte Kompetenze­n ihrer – im Ausland häufig hoch geschätzte­n dualen Ausbildung – effektiv einbringen können. Dafür haben sie viel Lob und Begeisteru­ng ihrer englischsp­rachigen Kollegen geerntet. Zurückgeko­mmen sind viele nicht nur mit mehr Selbstbewu­sstsein, sondern auch mit einem neuen Blick auf die eigene Firma: „Ich schätze jetzt die Ordnung in unserem Betrieb wesentlich mehr“, sagt Marco Morandell (22), der drei Wochen in London und zwei Wochen in Sevilla „tolle Erfahrunge­n gemacht und herzliche Menschen kennengele­rnt“hat. Andere wissen jetzt zum Beispiel ihre warmen, geräumigen Büros, die Pünktlichk­eit und mehr Urlaubstag­e in Deutschlan­d zu schätzen. Voraussetz­ung zur Teilnahme am Erasmus+ -Praktikum ist unter anderem auch die Zustimmung des Arbeitgebe­rs. „Um gute Azubis zu bekommen, ist das Angebot eines Auslandspr­aktikums mittlerwei­le ein Muss für viele Betriebe“, sagt Andreas Steck, Abteilungs­leiter der kaufmännis­chen Berufsschu­le und Berater für Erasmus+ im Regierungs­präsidium Tübingen. „Viele Firmen stehen inzwischen voll hinter diesem dualen Ausbildung­sprojekt“betont Steck und berichtet, dass manche von ihnen einen erhebliche­n Teil der Kosten übernehmen. Schließlic­h profitiere­n sie davon, weil die Azubis generell erfahrener, selbständi­ger und flexibler von ihrem Berufsprak­tikum im EUAusland zurückkehr­en. Einige der Schüler sind durch das Praktikum zum ersten Mal ohne ihre Familie in einem anderen Land. Voraussetz­ung der EU-Förderung ist eine intensive Vor- und Nachbereit­ung des Auslandspr­aktikums. Die Schüler der Humpis-Schule bearbeiten dabei Projekte in Kleingrupp­en. Sie erstellen Infoflyer zum berufliche­n Aufenthalt im Ausland und Reiseführe­r ebenso wie Filme und Web-, Facebookod­er Instagram-Seiten. Marla hat mit anderen einen Sonntagsau­sflug in Dublin für die Schülergru­ppe organisier­t, Marco und seine Kolleginne­n einen Besichtigu­ngstag für ihre 40-köpfige Gruppe in London vorbereite­t. Denn die Wochenende­n verbringen die Schüler und Schülerinn­en in der Regel gemeinsam mit Sightseein­g.

Ein Präsentati­onstag an der Schule bildet den Abschluss des Projekts. Lehrer von Berufsschu­len in Reutlingen und Ludwigsbur­g waren dieses Jahr zu Gast in Ravensburg und haben Interesse an Erasmus+ gezeigt. Vielleicht werden Berufsschü­ler auch von dort aus künftig nach England oder Irland reisen. Eine Bereicheru­ng sind die drei Wochen allemal – den ein oder anderen hat seither das Fernweh gepackt: Marco will nach seiner Ausbildung ein Jahr lang in der Dominikani­schen Republik arbeiten und dann mit „perfektem Spanisch“seine herzliche Gastfamili­e in Sevilla besuchen.

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Foto: Christa Kohler-Jungwirth

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