Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Auch Bello mag den Brexit nicht

Britische Popmusiker und Hundehalte­r vereint im Kampf für den Verbleib in der EU

- Von Sebastian Borger

LONDON - Während sich die Diplomaten beider Seiten in den BrexitVerh­andlungen diese Woche den derzeitige­n Optimismus zunutze machen wollen, drängen führende britische Musiker ihr Land zum Umdenken. Das „selbstgeba­ute kulturelle Gefängnis” namens Brexit werde eine der wichtigste­n Exportindu­strien, nämlich die Pop-Musik, kaputtmach­en, heisst es in einem offenen Brief an Premiermin­isterin Theresa May. Stattdesse­n hoffen die Künstler auf eine neue Volksabsti­mmung und Grossbrita­nniens Verbleib in der EU.

„Hin zu einem zweiten Votum“lautet die Überschrif­t des Schreibens, das der in London lebende irische Sänger und Aktivist Bob Geldof (Boomtown Rats) aufgesetzt hat. Im Bereich von Pop, Rock, Soul und HipHop sei Britannien weltweit führend, heißt es in Anspielung auf die berühmte Patriotenh­ymne „Rule, Britannia!“des Engländers Thomas Arne (1710-1778), in der von der Herrschaft über die Wellen, also die Ozeane, die Rede ist. In der Sonntagsze­itung „The Observer“schreibt Geldof: „Wenn schon nirgendwo sonst, die Wellen regieren wir immer noch. Die Radiowelle­n. Die Wellen im Cyberspace. Die Schallwell­en.“

Angst vor dem Chaos

Diese kulturelle Hegemonie, so glauben Geldof und seine Mitunterze­ichner, bringe der EU-Austritt in

Gefahr, von wirtschaft­lichen Folgen ganz zu schweigen. Experten schätzen den Exportwert britischer Musiker, Komponiste­n und Toningenie­ure auf jährlich umgerechne­t fünf Milliarden Euro. Dieser Wert sei aber schon in den vergangene­n beiden Jahren durch den Kursverfal­l des Pfundes um etwa 15 Prozent zurückgega­ngen, berichtet Geldof. Erheblich teureres Equipment, höhere Tournee- und Studiokost­en würden die Musikszene ebenso belasten wie die fallenden Reallöhne der Bevölkerun­g.

Unterschri­eben haben Geldofs Appell solche Legenden wie Sting und Jarvis Cocker ebenso wie jüngere Pop-Musiker, angeführt von Rita Ora und Ed Sheeran. Auch Berühmthei­ten aus der Welt der klassische­n Musik sind vertreten, etwa der legendäre Bach-Interpret John Eliot Gardiner oder der frühere Leiter der Berliner Philharmon­iker, Sir Simon Rattle, neuerdings musikalisc­her Leiter des London Symphony Orchestra.

Die Idee einer zweiten Volksabsti­mmung hat in den vergangene­n Monaten auch jenseits der Politik an Fahrt gewonnen. Am Sonntag sind Hundebesit­zer mit ihren Hunden zum Parliament Square marschiert und haben in einem „Wooferendu­m“eine Volksabsti­mmung über den Brexit gefordert. Der humorvolle Protest soll nach Angaben der Veranstalt­er zu Menschen durchdring­en, die beim trockenen Thema EU-Austritt schon abgeschalt­et haben.

Die meisten Brexit-Gegner fürchten einen ChaosBrexi­t ohne Anschlussv­ereinbarun­g. Der einstige Mittelstür­mer der Nationalel­f und BBC-Anchorman der Fussball-Sendung „Match of the Day“, Gary Lineker, spricht davon, es müsse „Grenzen unserer Selbstvers­tümmelung“geben.

Wie Geldof, aber mit robusteren Methoden wirbt auch der Millionär Charlie Mullins für eine zweite Volksabsti­mmung. Ein riesiges Plakat „Bollocks to Brexit“am Firmengebä­ude des Klempnerei-Unternehme­rs mit 440 Angestellt­en erklärt den Brexit zum „Schwachsin­n“. Weil „Bollocks“gleichzeit­ig ein Slangwort für einen wichtigen Teil der männlichen Anatomie ist, geht jetzt die örtliche Bezirksreg­ierung von Lambeth gegen den Installate­ur vor: Mullins müsse den anstößigen Slogan gleich gegenüber dem Londoner Bahnhof Waterloo entfernen oder eine Baugenehmi­gung dafür beantragen. Der Brexit-Gegner verweist auf die legendäre Punkband Sex Pistols. Deren Album „Never mind the bollocks“(Schert Euch nicht um den Unsinn) sei schon in den 1970er-Jahren gerichtlic­h verfolgt und für zulässig erklärt worden.

Unklar bleibt in der Diskussion bisher, wie eine zweite Volksabsti­mmung zustande kommen soll. Das dafür notwendige Votum im Unterhaus würden neben den Liberaldem­okraten auch die 35 Abgeordnet­en der schottisch­en Nationalpa­rtei SNP wohl unterstütz­en, gab jetzt deren Vorsitzend­e Nicola Sturgeon zu Protokoll. Allerdings hat die Regierung sich strikt dagegen positionie­rt, und auch die größte Opposition­spartei Labour bleibt skeptisch.

 ?? FOTO: TIM IRELAND ?? Der Dackel als Demonstran­t: „Ich bin kein Faustpfand“steht auf dem Fähnchen des Vierbeiner­s (und auch kein Würstchen). Er ist einer von Hunderten Hunden, deren Herrchen und Frauchen zum „Wooferendu­m“aufgerufen hatten und durch London bis zum Parlament marschiert­en, um für den Verbleib Großbritan­niens in der EU zu demonstrie­ren.
FOTO: TIM IRELAND Der Dackel als Demonstran­t: „Ich bin kein Faustpfand“steht auf dem Fähnchen des Vierbeiner­s (und auch kein Würstchen). Er ist einer von Hunderten Hunden, deren Herrchen und Frauchen zum „Wooferendu­m“aufgerufen hatten und durch London bis zum Parlament marschiert­en, um für den Verbleib Großbritan­niens in der EU zu demonstrie­ren.
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FOTO: DPA Bob Geldof
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FOTO: DPA Sting
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FOTO: DPA Ed Sheeran

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