Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Überdosis Zucker
Politik setzt auf Freiwilligkeit der Lebensmittelindustrie und erntet scharfe Kritik
- Über die trickreiche Werbung für Kinderlebensmittel hat der Hamburger Forscher Tobias Effertz schon häufig geredet. Schon von klein auf werden die Jüngsten mit gezielter Ansprache in den Massenmedien oder den sozialen Netzwerken auf bestimmte Markenvorlieben getrimmt, etwa mit kleinen Spielchen rund um einen Schokoriegel. Dabei haben viele Hersteller europaweit zugesagt, diese Praxis einzustellen. Passiert ist wenig. Weiterhin richten sich Effertz zufolge jährlich zwischen 12 000 und 19 000 Werbespots an diese Zielgruppe.
„Freiwillige Selbstverpflichtung funktioniert nicht“, sagt der Wissenschaftler. Seine neueste Studie zum Kindermarketing belegt, dass die Unternehmen immer stärker auch in den Schulen mit ihren Werbemaßnahmen Fuß fassen. „44 Prozent der Schulen nutzen Sponsoring durch Unternehmen“, erläutert er, jedes siebente davon kommt aus der Lebensmittelbranche. Effertz plädiert für ein gesetzliches Verbot von Kindermarketing für ungesunde Lebensmittel.
Davon will Ernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) noch nichts wissen. Sie will stattdessen gemeinsam mit der Branche auf freiwilliger Basis für gesündere Produkte sorgen. Eine Ausnahme gibt es. „Ich will zugesetzten Zucker für Kinder- und Säuglingstees verbieten“, kündigte die Politikerin auf dem von der Krankenkasse AOK zum zweiten Mal veranstalteten „Zuckerreduktionsgipfel“an. Bis Ende nächsten Jahres soll das Gesetz verabschiedet werden. Darüber hinaus setzt sie auf die Kooperationsbereitschaft von Industrie und Handel, um Zucker, Salz und Fette in Fertiggerichten zu reduzieren. Bis Ende Dezember will sie das Konzept erarbeiten und vom Bundeskabinett beschließen lassen.
Volkskrankheit Diabetes
Das Problem ist seit Jahren bekannt. Die Deutschen essen immer mehr verarbeitete Produkte, die reich an Fetten, Salz und – oft verdeckt – Zucker sind. Allein 70 Bezeichnungen finden sich für die verschiedenen Zuckerarten auf den Verpackungen, auch in Speisen wie Joghurt, wo kein Verbraucher Süßes drin vermutet. Die Folge: 42 Prozent der Frauen, 62 Prozent der Männer und 15 Prozent der Kinder sind Klöckner zufolge übergewichtig. Diabetes hat sich durch den zu hohen Zuckerkonsum weltweit zu einer Volkskrankheit entwickelt, wie der amerikanische Forscher Robert Lustig vorträgt. Zwischen 2000 und 2014 stieg die Zahl der Erkrankten von 151 Millionen auf 422 Millionen an. Nach Lustigs Angaben vor allem durch einen zu hohen Zuckerkonsum. „Das passiert vor unseren Augen“, prangert er die Tatenlosigkeit der Politik an.
Zum Scheitern verurteilt
Industrie und Handel wollen die Zutaten für ihre Produkte nun allmählich verändern. Ob dies auf freiwilliger Basis tatsächlich gelingt, bezweifelt auch AOK-Chef Martin Litsch. Die Vereinbarung mit der Politik müsse messbare Wirkung zeigen, fordert er, sonst sei der Gesetzgeber gefordert. Litsch kritisiert, dass vier von fünf Fertiggerichten zugesetzten Zucker enthalten. Nur ein kleiner Teil der Kunden könne dies einer Studie des Max-Planck-Instituts zufolge auch erkennen.
Für die Verbraucherorganisation Foodwatch ist die Vereinbarung Klöckners mit der Industrie von vornherein nutzlos. Die sogenante Grundsatzvereinbarung überlässt es den Unternehmen selbst, welche Zielvorgaben sie sich setzen“, sagt Foodwatch-Expertin Luise Molling. Ärzte oder Krankenkassen forderten seit Jahren effektive Maßnahmen gegen die Fehlernährung, beispielsweise eine farbliche Kennzeichnung der Inhaltsstoffe. Eine freiwillige Lösung des Problems sei in den Niederlanden schon gescheitert.
Eine gute Nachricht für die Anhänger süßer Speisen gibt es dennoch. Es ist vor allem der zugesetzte Zucker in verarbeiteten Lebensmitteln, der in hohen Mengen gesundheitlich bedenklich ist. „80 Gramm verzehrt der Verbraucher davon täglich im Durchschnitt“, sagt der Chef des Instituts für Physiologie und Biochemie der Ernährung, Bernhard Watzl. Ein Viertel der Menge könne unbedenklich konsumiert werden. Die Konsumenten in anderen Ländern hätten sich schon an geringere Mengen Süßes gewöhnt. So enthalte die Limo „Sprite“in Österreich 40 Prozent weniger Zucker als in Deutschland. Den Kunden schmeckt sie anscheinend trotzdem.