Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Neue Serie zum Mythos Wirtshaus
Einst konnte sich der Gasthof Adler in Großholzleute vor Berühmtheiten kaum retten – Heute fehlt es nicht nur an Literaten
RAVENSBURG (nyf) – Über Jahrhunderte hinweg eine gesellschaftliche Institution, inzwischen vielerorts ein Fall fürs soziologische Artenschutzprogramm: Die Zahl der Wirtshäuser hat sich reduziert, ihre Bedeutung stark verändert. Die „Schwäbische Zeitung“spürt in Ihrer neuen Wirtshaus-Serie dem Mythos nach – ab heute wöchentlich.
ISNY - Dort, wo die Blechtrommel zu schlagen begann, herrscht heute geradezu gespenstische Ruhe. Das einzige Geräusch im Festsaal des Landgasthofs Adler in Großholzleute ist das Knarzen des Dielenbodens, wenn doch einmal Gäste den großen, kalten Raum betreten. Allzu viele Menschen dürfen hier sowieso nicht gleichzeitig rein – zu fragwürdig ist die Tragfähigkeit des Untergrunds. Um die leicht durchhängende Deckenkonstruktion ist es auch nicht gut bestellt. Doch auch wenn der Zahn der Zeit an dem Saal nagt, so ist er doch ein Ort der Zeitgeschichte.
In dem Festsaal trat Ende Oktober 1958 ein junger Schriftsteller auf die Bühne, setzte sich, ordnete einen Stapel Manuskripte – und verschaffte seinem Publikum erstmals Zugang zu einem echten Stück Weltliteratur. Günter Grass begeisterte nach wenigen Augenblicken die Mitglieder der Gruppe 47 derart, dass sich ihm eine schillernde Zukunft eröffnete. Die „Blechtrommel“war geboren und ließ die Verleger nur so Schlange stehen. Und: Der Adler in der Ortschaft nahe Isny im Allgäu hatte auf ewig den Ruf, Schauplatz für ein Weltereignis geworden zu sein.
Auch heute wirkt nicht nur dieses Ereignis nach. „Man atmet hier den Geist vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte“, drückt Rudi Holzberger aus, was er empfindet, wenn er durch die Räume des Anfang des 15. Jahrhunderts erbauten Gasthofs geht. Holzberger ist gebürtiger Kreuzthaler, Journalist, Heimatforscher und nicht zuletzt Berater des Adler-Besitzers Hubert Baumeister. Mit Holzbergers Hilfe will der aus Ravensburg stammende Baumeister den Gasthof wieder zu einer echten Adresse machen. „Dieser Gasthof ist etwas ganz Besonders“, sagt Baumeister, der selbst oft hier eingekehrt ist. Die Begeisterung der beiden Männer jedenfalls ist groß, was am Beispiel des Fundstücks zu spüren ist, das Baumeister kürzlich vor die Füße fiel, als er einen Wandschrank verschieben wollte. Eine Zeichnung kam zum Vorschein. Darauf zu sehen waren marschierende Blechtrommler. Darunter die Unterschrift von Günter Grass mit einer Widmung an die Mitarbeiter des Gasthofs Adler. Die Zahlen 4/120 deuteten darauf hin, dass es eines von wenigen Exemplaren sein könnte – aus der Hand des berühmten Schriftstellers. Hatte er diese Zeichnung etwa nach seinem Erfolg mit der „Blechtrommel“Lesung in Großholzleute gelassen? Holzberger machte sich mit dem geschulten Blick und der notwendigen Skepsis daran, das Alter herauszufinden.
Die Zeichnung ist längst nicht das einzige Zeugnis dafür, dass der Adler viele Sternstunden erlebt hat. Im Hauptgastraum hängt etwa auch ein Foto der englischen Prinzessin Anne, die hier vor drei Jahrzehnten Winterurlaub machte. Überhaupt wirkt der denkmalgeschützte Adler wie eine einzige Erinnerung an fast 600 Jahre Wirtshausgeschichte. Der Eindruck, dass hier schon seit Jahren fast nichts verändert wurde, täuscht nicht. Denn der Adler schloss erstmals 2013, die Betreiber verabschiedeten sich nach Afrika. Fortan wurde ein Käufer gesucht, der den historischen Gasthof übernimmt – und bestenfalls zu neuer, alter Blüte verhilft.
So richtig blühend ist die Gegenwart allerdings nicht. Immerhin ist der Festsaal einigermaßen vorzeigbar. Tische und Stühle sind geordnet aufgestellt, ein jahrelang wild betriebener Flohmarkt ist beseitigt. Jetzt sieht es wenigstens danach aus, als würde noch am Abend eine Veranstaltung starten können. Wenn denn der Boden mehr als eine Handvoll Menschen aushalten würde. „Der Saal sollte unbedingt erhalten bleiben“, sagt Rudi Holzberger.
Die Lesebühne steht noch
Im Winter sei es zwar kaum möglich, das einfach gebaute Gebäude zu heizen, im Sommer aber könnte hier wieder richtig Leben in die Bude kommen, glaubt er. Zumal selbst die Bühne, auf der Grass las, noch steht. Kurzfristig dachte Adler-Besitzer Baumeister sogar an eine Lesung zum 60. Jahrestag des Treffens der Gruppe 47. Holzberger konnte ihn aber davon überzeugen, dass das nicht innerhalb von ein paar Tagen zu stemmen sei. Jetzt soll der Saal in zwei Jahren eventuell bei den Badenwürttembergischen Literaturtagen eine Rolle spielen, die in Isny stattfinden. „Jedenfalls wird Grass mit seiner ,Blechtrommel’ in das Programm eingebunden“, sagt die Isnyer Kulturamtsleiterin Karin Konrad. Möglicherweise herrscht zwischenzeitlich ja sogar wieder regulärer Betrieb in dem Gasthof, wie zuletzt für ein knappes Jahr, bis der lange gesuchte Pächter und Wirt wieder hinschmiss.
Als aus den Gerüchten, dass der Adler schließen würde, im Jahr 2013 Gewissheit wurde, schaltete sich auch Günter Grass ein. Er fürchte, es verschwände „nicht nur ein Stück lokaler Geschichte, sondern auch ein Stück deutscher Literaturgeschichte“, ließ der Literaturnobelpreisträger verlauten. Er meinte damit natürlich auch ein Stück ganz persönlicher Geschichte. Denn am 31. Oktober 1958 sorgte er selbst für diesen Moment deutscher Literaturgeschichte, um dessen Andenken er Jahrzehnte später fürchtete. Im Festsaal hinter dem Gasthof versammelte sich die deutsche Schriftstellerelite zu einem ihrer Treffen. Im Gepäck hatte das Universalgenie Grass nicht nur seine fast fertige „Blechtrommel“, sondern auch einige Zeichnungen, mit deren Verkauf unter seinen Kollegen er ein bisschen seinen stets klammen Geldbeutel füllen wollte. Seine begeistert aufgenommene Lesung aus der „Blechtrommel“befreiten ihn von seinen finanziellen Sorgen. Nicht nur deshalb behielt Grass den Adler in bester Erinnerung. Im Gästebuch dankten er und seine Frau Anni der Küche, für die Wirtin Josefine Würzer, die alle nur Tante Finni nannten, verantwortlich zeichnete. Neben den schriftlichen Dank zeichnete Grass einen Koch.
Vielleicht eine Ausstellung?
„Hier muss der Band irgendwo sein“, sagt sechs Jahrzehnte später Rudi Holzberger in einem Nebenraum des Gasthofs. Auf Anhieb findet er das das Jahr 1958 betreffende Gästebuch nicht. Inmitten von Unterlagen und Bierdeckeln entdeckt er es dann doch. „Der Eintrag ist echt“, sagt Holzberger, der auf derselben Seite aber auch schon gefälschte Unterschriften ausgemacht hat – etwa die von Max Frisch. Diese Skepsis bewahrte Holzberger letztendlich auch davor, die Zeichnung, die Baumeister zufällig hinter dem Wandschrank fand, für 60 Jahre alt zu halten. Zu neu sah das Papier aus, auf dem marschierende Blechtrommler zu sehen sind. Zwar stamme diese Zeichnung sehr wohl von Günter Grass, sagt Holzberger. Es sei wohl aber eher so, dass Grass diese Zeichnung in mehrfacher Ausführung erst nachträglich angefertigt habe – und dem Gasthof Adler ein Exemplar zukommen ließ.
Um die Zeichnung der Öffentlichkeit in dem historischen Gebäude zugänglich zu machen, müsste der Adler wieder öffnen. Um den Geist der Gruppe 47 samt seinen Protagonisten wieder zu beleben. Dann könnte Baumeister endlich auch das „Heute Ruhetag“-Schild von der Eingangstür nehmen, das dort heute und permanent hängt. Es gebe Gespräche mit einem möglichen neuen Pächter, sagt der AdlerBesitzer. Sollte es tatsächlich soweit kommen, würden in Großholzleute endlich wieder die Blechtrommler schlagen. Wie damals, als Grass Weltliteratur ins Dorf brachte.