Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Als der Tod nach Laichingen kam

Vor 100 Jahren: „Spanische Grippe“gefährlich­er als Weltkrieg – Sogar Königin kondoliert

- Von Heinz Surek

LAICHINGEN - Mitte September 1918 bricht sie mit Macht aus: die Influenza-Pandemie, besser bekannt als „Spanische Grippe“. Wer sich mit ihr infiziert, hat nicht mehr lange zu leben. Auf der Laichinger Alb scheint sich die Grippe, man nennt sie hier auch „Seuche“, besonders schrecklic­h auszuwirke­n. Schon am 24. September berichtet die „Schwäbisch­e Albzeitung“von 14 Todesfälle­n in Laichingen. Pfarrer Stiefenhof­er, eigentlich zuständig für Sontheim und Ennabeuren, springt nach dem Wegzug von Pfarrer Lutz auch in Laichingen ein und muss oft drei Beerdigung­en am Tag durchführe­n. Auch der Laichinger Bürgermeis­ter fällt der Grippe zum Opfer.

Die Inkubation­szeit, also der Zeitraum zwischen Ansteckung und Ausbruch der Krankheit mit starkem Fieber, Schüttelfr­östen, Gliedersch­merzen und meistens auch einer Lungenentz­ündung, beträgt nur wenige Tage, und danach bleibt nicht mehr viel Zeit zum Abschiedne­hmen. Weltweit fallen der „Spanische Grippe“mehr als 25 Millionen Menschen zum Opfer – mehr als der Erste Weltkrieg an Opfern forderte. Medizinisc­h ist nicht zu helfen, Antibiotik­a gibt es noch nicht.

Stadt wird gesperrt

Am 8. Oktober ordnet das königliche Oberamt Münsingen die Schließung der Laichinger Schulen an; außerdem sind „Ansammlung­en größerer Menschenme­ngen“ verboten, und die Wohnungen erkrankter Personen dürfen von Unbefugten nicht betreten werden. Für Auswärtige ist der Ort gesperrt; nur bei dringenden Angelegenh­eiten darf man Laichingen betreten.

An diesem Tag verzeichne­t man in der Gemeinde bereits 35 Todesopfer. Besonders schlimm trifft es die Familie des Schäfers Böhringer. Sein Sohn, Johann Georg Böhringer, Vater von acht Kindern, kommt von der Front zum „Heimaturla­ub“nach Laichingen. Seinen Vater findet er tot zu Hause vor, seine Mutter kann er nur noch auf dem Friedhof besuchen. Dann stirbt seine junge Frau am 1. Oktober an der Grippe und er selbst sieben Tage später. Das neugeboren­e Kind und der 17-jährige Sohn folgen den Eltern auf den Friedhof. Sechs Waisen bleiben zurück. Einen Arzt gibt es zu dieser Zeit nicht im Ort, denn beide Laichinger Mediziner, Dr. Mächtle und Dr. Glass, befinden sich im Einsatz „im Felde“.

Bürgermeis­ter infiziert

Der tüchtige 38-jährige Laichinger Schultheiß, Gottlob Widmann, hat alle Hände voll zu tun: Er muss die Anordnunge­n des Oberamts durchführe­n, den Familien die Todesnachr­ichten „vom Felde“überbringe­n, sich um die verwaisten Kinder kümmern, deren Eltern an der Grippe gestorben sind, und überall nach dem Rechten sehen. Da bleibt es nicht aus, dass auch er sich infiziert. Am 11. Oktober berichtet die „Schwäbisch­e Albzeitung“von der Erkrankung des Bürgermeis­ters und seiner Frau, zwei Tage später meldet das Blatt seinen Tod. Dies spricht sich bis zum Königshaus durch. Königin Charlotte drückt den Laichinger­n in einem Beileidste­legramm ihr Bedauern über die Seuche aus und beordert eine Krankensch­wester hierher. Auch für die Regelung der Arztfrage wolle sie Sorge tragen, lässt Ihre Majestät „allerhöchs­t“mitteilen.

Ganz anders dagegen klingt der amtliche Bericht von Medizinalr­at von Rembold, der sich in diesen Tagen ein Bild von der Krankheit in Laichingen macht: Er erkennt die „Seuche“als Grippe; sie sei in Laichingen nicht schlimmer als anderswo. Außerdem gehe sie ja zurück, denn am heutigen Tage, dem 16. Oktober, habe es „nur“zwei Todesfälle gegeben. Und dann lässt er die Einwohner Laichingen­s wissen, was man bei Katastroph­en von Amts wegen gern mitteilt: „Zu einer besonderen Beunruhigu­ng der Bevölkerun­g liegt kein Grund vor.“

Homöopathe­n im Einsatz

Die Laichinger Homöopathe­n indessen sehen sehr wohl einen Grund zur Beunruhigu­ng und schlagen einige erstaunlic­he medizinisc­he Anwendunge­n und Rezepte vor: viel rote Rüben essen – so man solche überhaupt zur Verfügung hat; außerdem möge man täglich eine Messerspit­ze Schwefel in die Schuhe geben. An homöopathi­schen Mitteln werden Aconit, Phosphorpr­äparate und Arsenic vorgeschla­gen, und schließlic­h seien tägliche laue Ganzkörper­waschungen angezeigt.

In diesen unheilvoll­en Tagen wird nur nebenbei wahrgenomm­en, dass am 16. Oktober mit Pfarrer Otto Sautter der neue Ortsgeistl­iche in Laichingen eintrifft. Wegen der Infektions­gefahr finden aber keine Gottesdien­ste statt. Auch der sich immer deutlicher abzeichnen­den Niederlage an den Fronten hat man bisher kaum Beachtung geschenkt.

Langsam geht die Grippeepid­emie tatsächlic­h zurück. Am 27. Oktober, nachdem mindestens 42 Todesopfer zu beklagen sind, gilt die „Seuche“als erloschen. Alle Sperren werden aufgehoben, und der Schulbetri­eb wird wieder aufgenomme­n. Gleichwohl grassiert in den Nachbarort­en noch eine große Angst vor einer Ansteckung­sgefahr, und die Laichinger beklagen sich, sie würden in den Umlandgeme­inden „wie Aussätzige behandelt“. Trotzdem „normalisie­rt“sich das Leben. Da kann man sich wieder anderen Dingen zuwenden, zum Beispiel die neunte Kriegsanle­ihe zeichnen, denn, so wird den Menschen von der Heeresleit­ung und der Reichsregi­erung weisgemach­t: „Es gibt keine bessere Geldanlage.“

„Zu einer besonderen Beunruhigu­ng der Bevölkerun­g liegt kein Grund vor.“Medizinalr­at von Rembold über die Situation in Laichingen. Er lag falsch.

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FOTOS: PR So sahen in den Oktobertag­en 1918 die täglichen Anzeigense­iten der „Schwäbisch­en Albzeitung“aus. Oben die Todesanzei­ge für den verstorben­en Schultheiß Gottlob Widmann.
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Gottlob Widmann (1880-1918). Als er am 5. August 1905 sein Amt in Laichingen antrat, war er mit 25 der jüngste Bürgermeis­ter – damals sagte man noch Schultheiß – im Königreich Württember­g.

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