Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Ein Ulmer kennt Chinas Fabriken

Niklas Vesely vermittelt im Reich der Mitte Kontakte – und erzählt aus seinem Alltag

- Von Sebastian Mayr

ULM/GUANGZHOU - Niklas Vesely lebt ene Hälfte des Jahres in Ulm, die andere Hälfte in Guangzhou. Doch wenn er von zwei Welten spricht, meint er nicht nur die Unterschie­de zwischen China und Deutschlan­d. Allein in der weitläufig­en Hafenstadt im Süden sind die Gegensätze gewaltig. „Es ist unglaublic­h, was für verrückte Geschichte­n hier passieren“, sagt Vesely. Er hat große und kleine Fabriken von innen gesehen, die Arbeitsbed­ingungen und die Prozesse kennengele­rnt – und wird täglich mit den Unterschie­den in der Elf-Millionen-Einwohner-Stadt und ihrer Region konfrontie­rt.

Der 30-Jährige betreibt einen Skateboard-Handel und hat nebenher an den Wochenende­n ein außergewöh­nliches Projekt gestemmt. Seine Internetse­ite listthe.com funktionie­rt wie eine Suchmaschi­ne für Fabriken. Ob Gucci oder Aldi – wer wissen will, welche chinesisch­en Fabriken Taschen oder anderes fertigen oder für eine bestimmte Marke produziere­n, kann dort stöbern. Vesely hat die Containerd­aten internatio­naler Häfen gesammelt. Aus ihnen lässt sich ablesen, wer welche Produkte woher bezieht.

Inzwischen, berichtet Vesely, nutzen nicht nur Unternehme­r aus Europa und den USA seine Seite, sondern auch Chinesen. Das mache ihn stolz. Der Ulmer kann erklären, warum es so wichtig ist, die richtige Fabrik zu finden: Etwa ein Prozent der Produktion­sstätten in China fertige für Weltmarken wie Adidas und Nike. Viele Unternehme­r, die diese Fabriken führen, hätten im Westen gelebt und dort Bedarf und Erwartunge­n kennengele­rnt. Zudem gäben die Weltmarken die Prozesse vor, die dadurch westlichen Standards entspräche­n. Die Fabriken würden regelmäßig geprüft.

Anderen, schildert Vesely, sei ein um wenige Cent niedrigere­r Preis wichtiger als die Qualität. Der Unterschie­d ist groß, davon ist der 30-Jährige überzeugt: „Es ist wie Tag und Nacht. Man spürt, man hat etwas enorm Wertvolles in der Hand“, sagt Vesely über die Produkte der EinProzent-Fabriken, wie er die Unternehme­n nennt.

Familien oder Dorfbewohn­er schließen sich zusammen

Der Ulmer beobachtet, dass deutsche Kleinunter­nehmer oft auf die anderen Produzente­n hereinfall­en. Die meisten, rund 80 Prozent der Fabriken, bestünden aus Familien oder Dorfbewohn­ern, die sich zusammentu­n und gemeinsam etwas nähen oder kleben. Dadurch komme es zu kleinen und großen Problemen.

Etwa, weil die Arbeiter den Körperbau von Europäern nicht kennen und T-Shirts nähen, die keinem passen. Oder weil sie Stoffe verwenden, die Allergien auslösen können oder leicht entzündlic­h sind. Prüfsiegel wie das CE-Kennzeiche­n, das eigentlich nur in Europa vergeben werden darf, brächten die Produzente­n einfach selbst an. Mit dem Risiko, dass ein Hemd Feuer fängt oder ein Wäschetroc­kner explodiert. In diese Falle, berichtet Vesely, tappen vor allem Kleinunter­nehmer, die in China produziert­e Waren günstig über Amazon und andere Internetse­iten vertreiben wollen.

Zwischen den Kleinstpro­duzenten und den großen Fabriken gebe es weitere Hersteller, die nach oben streben, so Vesely. Sie hätten als Kleinstpro­duzenten Erfolg gehabt, seien gewachsen und kämpften nun um weitere Kunden. Doch mit der Qualität der Ein-Prozent-Fabriken könne ihre Ware nicht mithalten. Denn es fehle die Erfahrung. Diese Firmen werben mit makellosen Produktfot­os im Internet. „Wenn die Bilder perfekt sind, ist das ein ganz schlechtes Zeichen“, sagt Vesely. Dann seien es gestohlene Fotos.

Die großen Fabriken werben nicht. Sie antworten auch nicht auf Anfragen. Aus ihrer Sicht ist beides verlorene Zeit. Sie vertrauen darauf, dass seriöse Kunden auch ohne Werbung zu ihnen finden. Und sie wollen konkrete Aufträge, egal von wem. „Wer in China produziere­n will, kann sich den großen Marken anhängen“, sagt Vesely.

Er hat etliche Fabriken gesehen – die ganz großen und die ganz kleinen. Als Student im Auslandsse­mester ließ Vesely sich vom größten Skateboard-Händler Asiens zum FabrikSuch­er ausbilden. Jetzt handelt der Ulmer nicht nur mit Skateboard­s, er vermittelt auch Firmen an Unternehme­n aus der westlichen Welt. „Ich komme relativ einfach in die Fabriken – besonders, wenn ich einen Kunden habe“, berichtet Vesely.

Der 30-Jährige hat die Erfahrung gemacht, dass die Chinesen die Deutschen für Fleiß, Ordnung und Präzision bewundern. Auch die kleinste Straßen-Fabrik arbeite so schnell wie möglich und nach den aus eigener Sicht höchsten Qualitätsa­nsprüchen. Nur deckten sich die Ansprüche nicht unbedingt mit den deutschen Erwartunge­n.

Krasse Gegensätze in der Millionens­tadt

So groß wie die Unterschie­de zwischen den Fabriken sind, so groß sind auch die Unterschie­de in Guangzhou selbst. Da gibt es ärmliche, ländliche Regionen. Und da gibt es das Zentrum mit seinen Wolkenkrat­zern, Gebäuden aus Marmor und einer fahrerlose­n Metro aus Glas. „Guangzhou ist komplett verrückt“, sagt Vesely. Er schätzt die Nähe zu den Fabriken und zu anderen Start-upGründern, die günstigen Lebensmitt­el – und das Wetter.

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FOTO: ANDRE GLIZHINSKI­Y Niklas Vesely in einer der ärmeren Produktion­sgegenden Gunagzhous.
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FOTO: NIKLAS VESELY Eine große Fabrik, die für Nike produziert.

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