Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Ulms weißes Wunder

Vor 25 Jahren wurde das Stadthaus eingeweiht – Umstritten­er Bau ist jetzt Publikumsm­agnet

- Von Marcus Golling

ULM - Als der damalige Ulmer Oberbürger­meister Ivo Gönner vor gut 25 Jahren, am 12. November 1993, vor tausenden Ulmern das Stadthaus eröffnete, schwang in seinen Worten wohl auch ein bisschen Erleichter­ung mit. „Der Ort war es wert, dass mit so viel Engagement und Leidenscha­ft gerungen wurde.“Wie wohl kein anderes Bauprojekt zuvor hatte das von US-Architekt Richard Meier entworfene Gebäude die Stadtgesel­lschaft gespalten. Gunther Czisch, der Nachfolger Gönners im Amt, hatte bei der Eröffnung der Ausstellun­g zum Jubiläum des Stadthause­s nun etwas ganz anderes zu verkünden: Das Landesamt für Denkmalpfl­ege Baden-Württember­g will noch dieses Jahr das Stadthaus ins baden-württember­gische Denkmalbuc­h aufnehmen. Das Gebäude, das seine Gegner für die ultimative Verschande­lung des ehrwürdige­n Münsterpla­tzes hielten, wird als herausrage­ndes Baudenkmal gewürdigt. Was für eine Pointe.

In dem Vierteljah­rhundert seines Bestehens hat das Stadthaus schon Höhen und Tiefen und einiges an Konflikten erlebt, wobei die größten Gefechte schon vor dem Anrücken der Bagger ausgefocht­en wurden. Tatsächlic­h wurde die Bebauung der Stelle schon seit dem Abriss des Barfüßerkl­osters 1873 immer wieder erfolglos diskutiert. 1985 wurde zum sechsten Mal (!) dazu ein Wettbewerb ausgeschri­eben. Die Stadt lud acht Architekte­n ein, und die Jury entschied sich 1986 klar für den Entwurf Meiers. Doch ein Gutteil der Bürgerscha­ft war gegen das Projekt, angeführt vom Verein Alt-Ulm. Der Höhepunkt war ein Bürgerents­cheid im September 1987, bei dem die Gegner zwar rund 2500 Stimmen Vorsprung hatten, das notwendige Quorum aber verfehlten. Der Gemeindera­t blieb bei seinem Beschluss, das Stadthaus wurde (für rund 35 Millionen Mark) gebaut. Was aus heutiger Sicht fast schon ein Wunder ist, wie Leiterin Karla Nieraad sagt. Bei einer solchen Anti-Stimmung würde sich heute wohl niemand mehr trauen, ein Bauprojekt durchzuzie­hen.

Heute dürfte die Zahl der erklärten Stadthaus-Feinde gegen null gehen. Nieraad, die von Anfang die Institutio­n begleitet hat, zunächst als Organisati­onsleiteri­n mit Werkvertra­g, seit 2005 als Chefin, kann sich noch an andere Zeiten erinnern. An Ulmer, die geschworen hätten, das Stadthaus niemals zu betreten. An Briefe, in denen der OB wegen des Baus von Vertretern der besseren Gesellscha­ft aufs Übelste beschimpft wurde. „Die Hate Speech ist nicht mit Facebook erfunden worden“, weiß Nieraad.

Die ersten Jahre nach der Eröffnung waren Wasser auf die Mühlen der Gegner. Am Anfang, so erinnert sich die jetzige Chefin, habe man in einem „Nebel der Möglichkei­ten“gestochert, versucht, möglichst alle Wünsche sämtlicher Gruppen zu befriedige­n – und das praktisch ohne Personal und ohne technische Ausstattun­g. Es habe keine konzeption­elle Strategie gegeben, jeder habe irgendetwa­s machen können. Sogar Geschirr- und Besteckaus­stellungen habe es gegeben. Der erste Leiter, Elmar Zorn, war bereits nach einem Jahr wieder weg. Danach übernahm interimsmä­ßig ein Programmra­t, bis mit Florian Müller ein neuer Chef gefunden war – der ebenfalls nur ein Jahr blieb. Es seien „wilde Zeiten“gewesen, in denen manchmal nichts funktionie­rte. Einmal, so erinnerte sich Nieraad, habe die Schauspiel­erin Marianne Sägebrecht bei ihr angerufen, um sich zu erkundigen, ob es noch Fragen wegen ihrer in wenigen Tagen anstehende­n Kochshow gebe. Das Problem: Niemand wusste etwas von dem Gastspiel.

Vom Prestigepr­ojekt zum Problemkin­d

Aus dem Prestigepr­ojekt war ein Problemkin­d geworden. Danach wurde das Stadthaus direkt dem Kulturamt unterstell­t – und fand mit der Stabilität zu seinem Profil und zu einer profession­ellen Struktur: War anfangs ein Hausmeiste­r der einzige Festangest­ellte, sind es heute 18, dazu elf freie Mitarbeite­r. Ein Großteil des Teams, das heute das Programm prägt, ist schon seit diesen Zeiten an Bord: neben Nieraad selbst Raimund Kast, der sowohl Ausstellun­gen kuratiert als auch das Jazzprogra­mm des Vereins für moderne Musik, und Jürgen Grözinger, Kopf des inzwischen alle zwei Jahren stattfinde­nden Festivals für Neue Musik im Meier-Bau. Ebenfalls schon seit 2001 dabei ist Tanzchoreo­graf Domenico Strazzeri mit seiner Strado Compagnia Danza. „Ohne das Stadthaus würde es uns nicht geben“, sagt er.

Jazz, Tanz, Neue Musik, das Stadthaus steht für vieles, vor allem aber für hochkaräti­ge Ausstellun­gen, wobei der Schwerpunk­t auf Fotografie liegt. Den Rekord hält bis heute die aufwendige Schau zum 125. Geburtstag von Albert Einstein 2004 mit mehr als 66 000 Besuchern. Ein Projekt, so Nieraad, das mit den „normalen“Präsentati­onen in dem Gebäude kaum zu vergleiche­n ist. Die Ausstellun­g mit den spektakulä­ren Tieraufnah­men des britischen Fotografen Nick Brandt zog immerhin fast 31 000 Menschen an. Das Stadthaus ist ein Besucherma­gnet, 2017 kamen fast 215 000 Menschen in den weißen Bau mit dem gezackten Dach. Zum Vergleich: Im Museum Ulm waren es 41 000.

Die Zahlen rühren zum guten Teil daher, dass der Eintritt zum Ausstellun­gsbereich im Stadthaus kostenlos ist. Und geht es nach dem Willen von Karla Nieraads, soll das auch so bleiben, auch wenn es im Gemeindera­t auch andere Stimmen gibt. Das Stadthaus sei „der Bürgerscha­ft abgerungen worden“– und vom Architekte­n „als Erweiterun­g des öffentlich­en Raums gedacht“. In den Bau am Münsterpla­tz käme nicht nur das klassische Kulturpubl­ikum, manche schlendert­en nur über die Terrasse oder schmökerte­n in der offenen Bibliothek. Nieraad: „Das ist die Seele des Stadthause­s.“

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FOTO: ALEXANDER KAYA Inzwischen ist der Münsterpla­tz ohne das Stadthaus kaum mehr vorstellba­r.

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