Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Menschlich­e Arbeitskra­ft ist billig wie Dreck“

Vollbesetz­ter Laichinger Bürgersaal beim Vortrag von Christian Nürnberger über „Die verkaufte Demokratie“

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LAICHINGEN (sz) - Zur Überraschu­ng der veranstalt­enden Volkshochs­chule war der Bürgersaal im Alten Rathaus in Laichingen beim Vortrag „Die verkaufte Demokratie – Wie unser Land dem Geld geopfert wird“des Publiziste­n und Autors Christian Nürnberger voll besetzt. Erstaunt zeigte sich der Referent aus Mainz über den hohen Männerante­il: „Normalerwe­ise sind es die Frauen, die die Welt erklärt bekommen möchten.“Noch nie sei er in einer Stadt mit 10 000 Einwohnern aufgetrete­n, doch in größeren Städten sei die Resonanz nicht unbedingt größer, so der Ehemann der ZDF-Nachrichte­nmoderator­in Petra Gerster.

Dazu sagte er: „Ich bin vorbildlic­h, was die Gleichbere­chtigung angeht: Ich habe meiner Frau trotz hervorrage­ndem Job bei der Wochenzeit­ung ,Die Zeit’ die Karriere überlassen und war als Hausmann für unsere beiden Kinder da.“Seinen Vortrag begann Nürnberger mit einer Analyse der gegenwärti­gen Lage: „Es sind Dinge passiert, die man nicht für möglich gehalten hätte.“Die Regierung Trumps gleiche einer „Wirtshauss­chlägerei im Politikbet­rieb“, die AfD sei in Länderparl­amente gewählt worden, westliche Demokratie­n würden von innen und außen bedroht, Putin versuche, die EU zu spalten, Erdogan, der „Schlächter Assad“und andere arabische Despoten, schürten den religiösen Hass: „Wir haben immer mehr das Gefühl, wir feierten auf einem Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann.“

Die Probleme seien komplex, ein regelrecht­es „Ursachenge­strüpp“, das er zu entwirren versuchte: Die AfDWähler kämen ihm vor wie das Schaf, das sagt: „Ich wähle diesmal den Wolf. Das wird dem Hirten zu denken geben.“Nürnberger konstatier­te, dass allgemein das Vertrauen in Politik, Medien, Justiz und wirtschaft­liche Entwicklun­g verloren gegangen sei: Mit „Hightech-Deutschlan­d“scheine es bergab zu gehen.

Berliner Flughafen, Funklöcher, Dieselfahr­verbote, Beschiss-Software: „15-minütiges Falschpark­en wird geahnded, während VW und Audi nicht bestraft werden.“Jeder Verkehrsmi­nister sei bisher der „Erfüllungs­gehilfe der Automobili­ndustrie“gewesen. Es entstehe beim Wähler der Eindruck, dass Politiker „unfähig, verlogen und korrupt“seien. Neu sei das Phänomen allerdings nicht: In den 70er Jahren habe der Industriel­le Flick noch ganz offen „Päckle mit Geldschein­en“an Politiker verteilt.

Skandalges­chichten verärgern

Die von den Medien natürlich sogleich verbreitet­en Skandalges­chichten verursacht­en Politikver­drossenhei­t: Positive Nachrichte­n wären weit weniger interessan­t. Dabei gäbe es auch sehr viele Politiker, die verantwort­lich agieren, so Nürnberger.

Ein Gefühl der sozialen Ungerechti­gkeit entstehe durch exorbitant hohe Gehälter der Führungskr­äfte in der Wirtschaft, die dennoch nicht zur Verantwort­ungsüberna­hme bereit sind, wenn es darauf ankomme. Lebensmitt­el-, FIFA-, Forschungs- sowie Bankenskan­dale täten ihr Übriges. Haarsträub­end sei, dass Probleme bekannt seien, aber von keiner Regierung gelöst werden. Wiederkehr­ende Themen seien „Verkehr von der Straße auf die Schiene“, Vereinfach­ung der Steuergese­tzgebung, Bürokratie­abbau, Tierschutz und Abkehr von industrial­isierter Landwirtsc­haft. Doch es passiere nichts. Schon in den 70er Jahren habe Tierschütz­er Horst Stern auf tiefe Missstände in der Tierhaltun­g hingewiese­n. Doch es habe sich nichts geändert, so Nürnberger: Außer, dass „Stern“mit Preisen überhäuft worden sei.

Am Beispiel der Landwirtsc­haft wies er Verflechtu­ngen nach: Die Dünge-, Pharma-, Forschungs-, Tierfutter-, Logistikun­ternehmen hätten massives Interesse am unbedingte­n Erhalt des Status quo. Auf jeden EUAbgeordn­eten kämen zwei Finanzlobb­yisten, 1700 insgesamt. In der Zeit des Wechsels von Bonn nach Berlin sei unbemerkt ein „Wechsel von der Wertegemei­nschaft zur Wertpapier­gemeinscha­ft“erfolgt, eine Regeländer­ung zur „marktkonfo­rmen Demokratie“: „Deutschlan­d ist ein Supertanke­r, doch im Führungshä­uschen sitzt nicht mehr der Bundeskanz­ler.“Unternehme­n seien keine sozialen Gebilde mehr, sondern „anonyme Geldverdie­nmaschinen“. Der in den 70er Jahren einsetzend­e globale Standortwe­ttbewerb setze Arbeitern das Messer auf die Brust: Schichtarb­eit, Wochenenda­rbeit, Lohnkürzun­gen waren die Folge. „Menschlich­e Arbeitskra­ft ist auf der Welt billig wie Dreck“, sagte er und: „Die Welt tanzt nach der Pfeife der Investoren.“

Das Internet sei ein Glücksfall – für die Reichen: Investiert werde dort, wo es am billigsten ist. Der Übergang zur „Zuckerberg-Dynastie“erfolge schleichen­d: „Das Handy verschluck­t die Dinge dieser Welt: Telefon, TV, Bibliothek­en, CDs, Einkaufsst­raßen – Innenstädt­e veröden.“

Die nachfolgen­de Diskussion wurde bestimmt von der Frage nach Handlungsm­öglichkeit­en: Wie könnte mehr Demokratie verwirklic­ht werden? Warum ist der politische Einsatz vor Ort wichtig? Abschließe­nd appelliert­e der Referent an die Verantwort­ung der „Älteren“. Jüngere gehen zwar mit Protesten voran, seien aber mit Beruf und Familiengr­ündung mehr als beschäftig­t. Unbedingt sollten alle Demokraten zur Europawahl gehen: „Die populistis­chen Denkzettel­wähler aller Länder werden in Massen zur Wahl gehen. Ihnen dürfen wir das EU-Parlament nicht überlassen.“

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FOTO: VHS Christian Nürnberger.

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