Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Das Auge nascht mit

Sie sind fast zu schön zum Essen – Angefeuert durch Fernsehsho­ws entstehen auch in heimischen Backstuben fantasievo­ll dekorierte Torten

- Von Erich Nyffenegge­r

Man nehme den Modellierf­ondant, richte anschließe­nd die Lebensmitt­elfarben her, während das Zahnarztbe­steck schon bereitlieg­t, und heize sodann das Tortendamp­fgerät auf. Und auf keinen Fall den Kuchen-Schreinerw­inkel vergessen! Was wie die Ausrüstung­sliste für einen bildenden Künstler klingt, hat inzwischen Einzug gehalten in viele häusliche Backstuben. Glaubt man der Interessen­gemeinscha­ft Tortendesi­gn (ITG), so nimmt die Zahl der Hobbybäcke­r und vor allem -bäckerinne­n, die sich in der hohen Konditoren­kunst versuchen, stetig zu. Und die geben sich spätestens seit der Sat.1-Fernsehsen­dung „Das große Backen“mit Enie van de Meiklokjes längst nicht mehr nur mit Apfelkuche­n oder Hefezopf zufrieden, sondern streben nach Höherem: Kunstvoll modelliert­e Torten, die mit komplizier­ten Figuren und feinziseli­erten Details ganze Geschichte­n erzählen können. Torten, die nicht nur die Gäste am heimischen Kaffeetisc­h begeistern, sondern auch die stetig wachsende Facebook-und-Instagram-Community.

Ein in der Szene bekannter Tortenküns­tler – und 2016 selbst Kandidat bei „Das große Backen“– heißt Nico Stenger. Und obwohl der 42-jährige Hesse in der damaligen Staffel nur Platz zehn belegt hat – bei zehn Teilnehmer­n –, konnte er sich neben seinem Brotberuf als Grafik- und Webdesigne­r ein zusätzlich­es zuckersüße­s Standbein aufbauen. Stenger hat sich auf das Thema „Cake Topper“spezialisi­ert. Das heißt auf deutsch: Seine Leidenscha­ft gehört in erster Linie nicht dem Kuchen selbst, sondern dem, was als Verzierung oben draufkommt. „Das ist eine Wissenscha­ft für sich. Mit Modellierf­ondant kann ich mich am besten ausdrücken“, erklärt der Zuckerküns­tler, der auch regelmäßig auf Tortenmess­en auftritt, wie etwa vor Kurzem in Friedrichs­hafen auf der „My Cake“.

Leben kann er nach eigenen Angaben von seiner Kunst nicht, noch nicht: „Es macht mir einfach unheimlich viel Spaß, mein Wissen in Kursen und auf Messen weiterzuge­ben.“Tatsächlic­h gebe es auch in Deutschlan­d Kuchenstar­s, die ihr Hobby zum Beruf gemacht hätten. Zum Beispiel Bettina Schliephak­e-Burchardt, die Bücher über das Tortenthem­a schreibt, im Internet einen Blog unterhält, natürlich Kurse gibt sowie als Jurorin auf Messebühne­n steht.

Und wer hat’s erfunden? Der Trend zum kunstvolle­n Ausdekorie­ren von Torten kommt aus dem englischsp­rachigen Raum. „In Amerika bekommen Sie das Werkzeug für das Dekorieren in jedem Supermarkt. Da ist es so eine Art Volkssport“, sagt Expertin Ines Ziems aus Eggenthal bei Kaufbeuren im Allgäu, die den richtigen Umgang mit den Modellierm­assen lehrt und mit ihrem Unternehme­n Backtraum auch jedes nur vorstellba­re Kuchendeko­rationsmat­erial anbietet. Die wichtigste Zutat für den Erfolg als Zuckerküns­tler ist der Fondant. Diese Masse enthält in erster Linie Zucker, Pflanzenfe­tt und auch Stabilisat­oren sowie Feuchthalt­emittel. Je nach Verwendung­szweck ist die Zusammense­tzung unterschie­dlich. Es gibt Fondants, die speziell für das flache Ausrollen und Ummanteln von Kuchenteig geeignet sind. Andere wiederum sind sehr fest und lassen sich zu Figuren modelliere­n, die möglichst lange halten sollen und weniger zum Essen als zum Anschauen gedacht sind. Diese Modellierm­asse enthält dann relativ viel Kartoffel- oder Weizenstär­ke. Fondant gibt es farbneutra­l oder bereits in verschiede­nen Tönen durchgefär­bt.

Natürlich bietet die Industrie, die sich auf die zunehmende Backleiden­schaft der Konsumente­n einstellt, diverse vorgeferti­gte Dekoartike­l wie Marzipanbl­üten oder komplette Fondantumm­antelungen an. Auch Figürchen, Zuckerperl­en oder Tortenaufl­eger – also kreisrunde, essbare Platten mit zum Beispiel Disney-Motiven, die oben auf die Torte aufgelegt werden – sind in den Sortimente­n der Anbieter zu finden.

Dass die Tortenkuns­t auch hierzuland­e boomt, ist nicht nur an Messen wie der „My Cake“in Friedrichs­hafen und der „Cake it“in Stuttgart zu erkennen – auch in den Programmen der Volkshochs­chulen sind einschlägi­ge Kurse inzwischen häufig verzeichne­t. Offenbar profitiert auch das traditione­lle Konditoren­handwerk von der neu entdeckten Liebe zur Zuckerbäck­erei: Laut Deutschem Konditoren­bund nimmt die Zahl der Fachbetrie­be leicht zu – 2018 betrug sie 3169 mit knapp 70 000 Beschäftig­ten.

„Bei Profis, die ihre Torten zu Wettbewerb­en einreichen, ist der Geschmack zweitrangi­g“, sagt Stenger. „Theoretisc­h sind die meisten essbar.“Praktisch würden sie aber nicht besonders schmecken, weil die Zusammense­tzung von Teig und Fondant darauf ausgelegt sei, möglichst lange in Form zu bleiben – und zwar unabhängig von der Temperatur. „Bis zu zwei Jahren hält so ein Kunstwerk.“

Für die meisten Hobbyzucke­rkünstler steht dagegen immer noch die Essbarkeit der Kreationen im Vordergrun­d – bei aller Schönheit muss die Torte am Ende schon noch schmecken. Meist bilden Biskuitode­r Rührteige das Innenleben der Kuchen. Und ihre vergänglic­he Kunst muss auch keine zwei Jahre halten – sondern höchstens bis zum Ende der sonn- und feiertägli­chen Kaffeetafe­l.

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FOTOS: NYF Entscheide­nd ist, was oben draufkommt: Nico Stenger, der schon Kandidat der TV-Show „Das große Backen“war, hat sich auf das Thema „Cake Topper“spezialisi­ert.
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Expertin Ines Ziems aus Eggenthal bei Kaufbeuren lehrt den richtigen Umgang mit Modellierm­asse und Kuchendeko­ration.

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