Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Sara darf nicht sterben!“

Für das kleine Mädchen mit einer seltenen Stoffwechs­elkrankhei­t zählt jeder Tag – es gibt nur noch eine Hoffnung

- Von Erich Nyffenegge­r

„Aber dass ich dann zusammenge­brochen bin, das weiß ich noch.“

Mutter Siham Theimer über das Gewissheit schaffende Telefonat

„Das ist mir am Anfang nicht leicht gefallen, an die Öffentlich­keit zu gehen.“

Siham Theimer über ihren Spendenauf­ruf

ROMANSHORN

- Der Anruf, der das Leben der Familie Theimer für alle Zeit verändern wird, kommt im Jahr 2016: Mutter Siham, die tunesische Wurzeln hat und in München aufgewachs­en ist, geht es eigentlich gerade besonders gut, weil ihr Kochbuch über mediterran­es Essen sich bombig verkauft. Alles bestens – wenn da nicht die größer werdenden Sorgen um die kleine Sara wären, die in letzter Zeit ihrem ursprüngli­chen Bewegungsd­rang immer weniger nachkommt. Das Laufen fällt ihr schwerer und schwerer, auch beim Essen hat sie zusehends Schwierigk­eiten. Und: Sara hört auf zu sprechen.

Die Eltern versuchen mit Ärzten herauszufi­nden, was dem Kind fehlt. Lange winken die Doktoren ab und beruhigen das Paar. Man müsse sich keine Sorgen machen. Blut und Urin seien in Ordnung. Warum aber baut Sara dann immer mehr ab? Die Ursachenfo­rschung geht weiter und führt von Spital zu Spital, bis die Familie Theimer schließlic­h an der Zürcher Uniklinik landet. Neurologie. Dort wieder Untersuchu­ngen. Eine Magnetreso­nanztomogr­afie (MRT) zählt dazu. Weitere Tests. Erste Andeutunge­n, nichts Konkretes. Tage später der Anruf aus dem ärztlichen Sekretaria­t: „Frau Theimer, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tochter an einer schweren …“Die Details des Telefonats sind in Siham Theimers Gedächtnis verblasst. „Aber dass mir der Hörer aus der Hand gefallen ist und ich dann zusammenge­brochen bin, das weiß ich noch“, erinnert sich die 42-Jährige heute.

Es hat ein wenig gedauert, bis Siham Theimer das hässliche Wort Gangliosid­ose gelernt hatte. Gehasst hat sie es vom ersten grauenhaft­en Moment an, als es die Ärzte nach der medizinisc­hen Irrfahrt schließlic­h nannten: G-M-1-G-a-n-g-l-i-o-s-i-do-s-e. Ein Begriff, der selbst wie eine Wortkrankh­eit klingt. Dahinter verbirgt sich – kurz gesagt – ein Gendefekt, der dafür sorgt, dass Zucker und Fette in den Zellen des Nervensyst­ems von Sara nicht mehr richtig abgebaut werden. Betroffene­n fehlt es

an einem Enzym, das die Zellen sozusagen reinigt und sauber hält. Mit fatalen und im Augenblick noch unheilbare­n Folgen: Betroffene Kinder verlieren wieder all ihre zuvor erworbenen Fähigkeite­n. Sie werden unbeweglic­h, müssen künstlich ernährt werden, können allein weder stehen, liegen, sitzen noch gehen. Saras Sehfähigke­it nimmt Tag für Tag ab. Krämpfe zwingen sie in regelmäßig­en Abständen in die Notfallamb­ulanz des Krankenhau­ses. Am Ende steht ein früher Tod, von dem Siham Theimer nicht weiß, wann er kommt. Vielleicht in zwei Jahren, vielleicht in drei. Womöglich überlebt Sara, bis sie zehn oder elf ist.

Studie kostet 400 000 Euro

Dass die kleine Sara vielleicht doch älter werden könnte, ist womöglich eine Frage des Geldes – davon ist ihre Mutter überzeugt. Denn während bei Volksleide­n wie Diabetes oder Bluthochdr­uck ein neues Medikament auf einen gigantisch­en Massenmark­t mit Milliarden­potenzial trifft, ist der Markt für die Stoffwechs­elkrankhei­t Gangliosid­ose winzig klein. Und die Entwicklun­g einer wirkungsvo­llen Pille verschling­t trotzdem enorme Summen. Das ist einer der Gründe, warum es für Saras Leiden keine Arznei gibt. Noch nicht: Denn ein vielverspr­echendes Medikament steht kurz vor der klinischen Studie – allein es fehlen 400 000 Euro, damit die kleine Schweizer Pharmafirm­a Dorphan nahe Lausanne den nächsten Schritt machen kann. Siham Theimer setzt all ihre Hoffnungen auf die Forschung dieses Unternehme­ns. Viel Zeit bleibt Sara aber nicht mehr.

Heute hat Sara einen relativ guten Tag. Das rosarote Einfamilie­nhaus in einem Wohnvierte­l von Romanshorn ist von der Sonne beschienen. Siham Theimer hat ihre Tochter schön gemacht: rosa Glitzersch­uhe, buntes Kleidchen, rosa Haargummis. Das Kind sitzt mit einem Brustkorse­tt gesichert in einem Rollstuhl. Seine Augen sind halb geöffnet. Ihre Mutter achtet auf jedes Geräusch, das aus dem kleinen Körper dringt. Sara ist ein Kind, das mit jedem Tag, an dem es noch auf dieser Welt lebt, ein bisschen weniger kann und ein bisschen mehr verlernt. Als ob sie an einer bestimmten Stelle ihrer jungen Kindheit umgekehrt sei und sich vom natürliche­n Weg des Wachsens und Größerwerd­ens verabschie­det hätte. Es gibt Videoaufze­ichnungen aus der Zeit, als sie ungefähr zwei Jahre alt ist: Sie zeigen ein fröhliches Mädchen, das mit Neugierde eine noch unbekannte Welt entdeckt. Das um das Sofa herumtobt und bald Mama und Papa sagen kann. Das gelernt hat, sich die besten Happen zu schnappen, fest entschloss­en, dieses Leben bei den Hörnern zu packen und loszulaufe­n in eine großartige Zukunft. Die Sara von heute, kurz nach ihrem sechsten Geburtstag, ist unbeweglic­h, fast erblindet. Ein Kind, das nur schwer atmen kann, begleitet von einem steten Gurgeln, unterbroch­en von gelegentli­chem Husten.

„Ich kann nicht zulassen, dass meine Tochter jeden Tag ein bisschen mehr stirbt, nur weil das Geld fehlt“, sagt ihre Mutter. Aus dieser entschloss­enen Stimme spricht ein Trotz, der wahrschein­lich übrig bleibt, wenn die Verzweiflu­ng bereits alle Tränen aus der Seele gewaschen hat. Siham Theimer jedenfalls hat das Gefühl, für den Rest ihres Lebens genug geweint zu haben, wie sie sagt. „Ich möchte alles dafür tun, damit sie am Leben bleibt.“Unzählige Nächte hat sie vor dem Rechner gesessen und das Internet durchforst­et. Einfach zu akzeptiere­n, dass es keine Heilung gibt, kommt für Siham Theimer nicht infrage. In den USA stößt sie auf Forschunge­n, die sich ganz auf die Gene konzentrie­ren – also nach einer Lösung suchen, um den Ausbruch der Krankheit zu verhindern. „Aber Sara kann davon nicht mehr profitiere­n. Sie hat die Gangliosid­ose ja schon!“Das Wechselbad zwischen Hoffen und Verzweifel­n geht weiter. Bis die Mutter irgendwann den Namen Stéphane Demotz liest.

Der Wissenscha­ftler, der früher für große Pharmaunte­rnehmen gearbeitet hat, forscht an einem Medikament, das aus seiner Sicht gute Chancen hat, die Stoffwechs­elkrankhei­t zu lindern, denn: „Die Verbindung, die wir entwickelt haben, zeigt starke Wirkung in Zellen von Patienten.“Im Labor besitze es die Fähigkeit, die Ansammlung von Abbauprodu­kten des Stoffwechs­els, die das Leiden verursache, zu reduzieren. Und warum ist das Unternehme­n Dorphan auf fremde Gelder angewiesen, damit das Medikament in einer klinische Studie am Menschen erprobt

werden kann? Demotz erklärt das so: „Generell ist die Entwicklun­gsarbeit für fast jede Art von Medikament ein riskantes Abenteuer.“Niemand wisse am Ende, ob es so wirkt wie erhofft. Keiner könne sagen, was die Therapie am Ende koste. Dorphan sei aber deshalb gegründet worden, um dem rein wirtschaft­lichen Denken bei der Entwicklun­g von Medikament­en gegen sehr seltene Krankheite­n etwas entgegenzu­setzen. Das bedeute aber auch, dass die Firma – anders als Multimilli­ardenkonze­rne – auf Unterstütz­ung angewiesen sei. Zum konkreten Fall von Sara sagt Stéphane Demotz: „Die Wahrschein­lichkeit, dass unser Medikament die Zuckerbest­andteile absenken kann, ist hoch.“Ob es die neurologis­chen Funktionen im Körper des kleinen Mädchens verbessere, sei allerdings zweifelhaf­t. „Vielleicht auf lange Sicht“, sagt Demotz.

Siham Theimer bekommt rote Bäckchen, wenn sie an diese Chance denkt. Nach der Diagnose ist sie zunächst in ein bodenloses Loch gefallen. Und es hat eine gewisse Zeit gebraucht, um sich wieder aufzurappe­ln. „Jetzt aber kämpfe ich mit aller Macht. Sara darf nicht sterben!“Neben der Pflege ihrer Tochter, die jetzt ein bisschen wacher wirkt, seit die Wintersonn­e durch die Fenster fällt, ist ihr Lebensinha­lt das Sammeln von Spenden geworden – und sie tut das vor allem in den sozialen Netzen und im Internet. Unter der Internetad­resse de.gofundme.com/cure4sara erzählt sie in einem Video das Schicksal der kleinen Familie nach, zeigt Bilder von Sara. „Das ist mir am Anfang nicht leicht gefallen, an die Öffentlich­keit zu gehen“, sagt Siham Theimer. Den meisten Betroffene­n fehle die Kraft. Doch die 42-Jährige sieht darin die einzige Chance, etwas gegen die Krankheit zu unternehme­n – „nicht nur für Sara, sondern für alle Patienten“. Auch wenn es nur sehr wenige sind: Stéphane Demotz spricht von etwa 1000 diagnostiz­ierten Fällen in Europa und den USA zusammenge­nommen.

Ernährung über Magensonde

Das Familienle­ben steht unübersehb­ar unter dem Einfluss des Schicksals von Sara: Das ist allein schon sichtbar an all den medizinisc­hen Hilfsmitte­ln, die das Haus füllen: Rollstühle, eine Apparatur, in der das Kind physiother­apeutisch betreut wird, zwei randvolle Schubladen mit Medikament­en – gegen die Krämpfe, gegen die Schmerzen, die Sara so müde und matt machen. Und eine Sammlung großer Kunststoff­spritzen, mit deren Hilfe das Kind über eine Magensonde ernährt wird, liegt auf der Küchenthek­e. „Dabei hat sie mein Essen immer so geliebt“, sagt ihre Mutter jetzt und ordnet den Saum des bunten Kleides, das über die unbeweglic­hen Glitzersch­uhe von Sara fällt.

 ?? FOTO: NYFFENEGGE­R ?? Mutter Siham Theimer gibt nicht auf, um das Leben ihrer Tochter Sara doch noch zu retten.
FOTO: NYFFENEGGE­R Mutter Siham Theimer gibt nicht auf, um das Leben ihrer Tochter Sara doch noch zu retten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany