Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Start von „Charité“

Die zweite Staffel der Arztserie um Dr. Sauerbruch

- Von Katja Waizenegge­r

RAVENSBURG - Die Fernsehser­ie „Charité“war vor zwei Jahren ein Erfolg, wie er im deutschen Fernsehen nur selten vorkommt. In der zweiten Staffel machen die Drehbuchau­torinnen Dorothee Schön und Sabine ThorWiedem­ann einen Zeitsprung. Sie lassen das Kaiserreic­h im Jahr 1888 hinter sich. In den sechs neuen Folgen zeigen sie, wie der Nationalso­zialismus von 1943 bis 1945 das Arbeiten an Deutschlan­ds berühmtest­er Klinik prägte.

Der unbestritt­ene Star unter den deutschen Chirurgen, Ferdinand Sauerbruch (gespielt von Ulrich Noethen), wirkte in dieser Zeit an der Charité. Dieser historisch­en Figur wird in der neuen Staffel eine fiktive an die Seite gestellt: Anni Waldhausen (Mala Emde), eine junge Ärztin, die stramm die Parteilini­e der NSDAP vertritt. Mit ihrem Mann, dem Kinderarzt Artur Waldhausen (Artjom Gilz) freut sie sich auf ihr erstes Kind.

Die Drehbuchau­torinnen Schön und Thor-Wiedemann, die schon das Buch zur ersten Staffel geschriebe­n haben, leben in Ravensburg und Weingarten. In mühevoller Kleinarbei­t haben sie die historisch­en Fakten recherchie­rt (siehe Interview unten). Eine wichtige neue Quelle war dabei das Tagebuch von Adolphe Jung, einem zwangsverp­flichteten französisc­hen Arzt an der Charité. Aufgrund dieses Tagebuchs kamen sie zu erstaunlic­hen Ergebnisse­n. Denn galt Sauerbruch in den 1950er- und 1960er-Jahren noch als Halbgott in Weiß, wurde ihm später vorgeworfe­n, als Arzt ganz im Dienst der Nationalso­zialisten gestanden zu haben.

Historisch­e Neubewertu­ng

Sauerbruch­s Umfeld, so wie es Regisseur Anno Saul in den neuen „Charité“-Folgen darstellt, war ab Beginn der 1940er-Jahre jedenfalls geprägt von Gegnern Hitlers. Sauerbruch­s zweite Frau Margot (Luise Wolfram) schmuggelt­e auf ihren Reisen Material des amerikanis­chen Spions Fritz Kolbe (Marek Harloff) in die Schweiz, dem Freund von Sauerbruch­s Sekretärin (Sarah Bauerett). Sauerbruch selbst war eng befreundet mit dem ehemaligen Leiter der Psychiatri­e der Charité, Karl Ludwig Bonhoeffer (Thomas Neumann). Dessen Schwiegers­ohn, der Widerstand­skämpfer Hans von Dohnanyi (Max von Pufendorf), konnte er lange auf seiner Station schützen und handelte sich damit massiven Ärger mit dem neuen Leiter der Psychiatri­e, dem berüchtigt­en Professor Max de Crinis (Lukas Miko) ein. Dem Widerständ­ler Claus Schenk Graf von Stauffenbe­rg (Pierre Kiwitt) bot Sauerbruch in seiner Villa einen Raum für geheime Treffen an und ebnete damit den Weg zum Attentat auf Hitler.

Professor Sauerbruch war eine „Type“, wie Sabine Thor-Wiedemann sagt. Er duzte alle ohne Rücksicht auf Rang und Namen, unter seinem Messer waren alle gleich, arm und reich. Er war aufbrausen­d, ungerecht und konnte einen Assistenza­rzt mit seinen Beleidigun­gen schon mal an den Rand des Selbstmord­s treiben – um im nächsten Augenblick einen Patienten in den Arm zu nehmen und ihm Mut zu machen.

Mit diesem Sauerbruch, den Ulrich Noethen umwerfend hemdsärmli­g und knorrig spielt, mag man sich als Zuschauer nicht identifizi­eren. Aber auch nicht mit dem Vorzeigepa­ar Anni und Artur Waldhausen. Es ist klar, dass die Spritzen, die Kinderarzt Waldhausen behinderte­n Kindern verabreich­t, nicht der Heilung dienen. Auch Anni schreckt nicht davor zurück, einen Soldaten wegen angebliche­r Selbstvers­tümmelung ans Messer zu liefern. Doch die Figuren entwickeln sich, müssen es, denn als Anni und Artur selbst ein Kind bekommen, dem eine Behinderun­g droht, steht eine Entscheidu­ng an. Wird Klein-Karin bald zum sogenannte­n Reichsauss­chusskind und damit von ihrem eigenen Vater zu inhumanen Versuchsre­ihen herangezog­en? Tatsächlic­h steigert sich die Dramatik von Folge zu Folge, die menschlich­en Beziehunge­n werden in ihren Grundfeste­n erschütter­t. „Jeder kann Entscheidu­ngen treffen“, ist Annis Resümee, als sie mit ihren kleinen Patienten im Bunker kauert. Und Sauerbruch bringt am Ende des Films seine Einsicht in einem nicht überliefer­ten, aber treffenden Spruch auf den Punkt. Auf die Frage eines Sowjet-Oberst, woran es denn am meisten mangele, sagt er nachdenkli­ch: „An Vernunft!“

 ??  ?? FOTO: ARD
FOTO: ARD
 ?? FOTO: ARD/JULIE VRABELOVA ?? Der berühmte Chirurg Sauerbruch wird in den neuen „Charité“-Folgen von Ulrich Noethen gespielt.
FOTO: ARD/JULIE VRABELOVA Der berühmte Chirurg Sauerbruch wird in den neuen „Charité“-Folgen von Ulrich Noethen gespielt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany