Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Aus der Terrorhöll­e in den Alltag im Südwesten

Einst waren sie Opfer des „Islamische­n Staates“– Heute gehen Jesidinnen zur Schule oder absolviere­n Ausbildung­en

- Von Ludger Möllers

STUTTGART - Auf dem Weg in ihr eigenes Leben in Sicherheit, versorgt mit Wohnraum und Bildung für die Kinder sind die meisten der 1000 Jesiden, die das Land Baden-Württember­g im 2015 über ein bundesweit einmaliges Projekt aus dem Nordirak aufgenomme­n hatte. Viele von ihnen gehen zur Schule oder absolviere­n Berufsausb­ildungen. Besonders schnell hätten sich die Kinder mit dem neuen Leben in Deutschlan­d zurechtgef­unden, heißt es in einer wissenscha­ftlichen Auswertung, die Staatsmini­sterin Theresa Schopper (Grüne) am Mittwoch vorstellte.

Auf Initiative von Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) hatte sich das Land entschloss­en, in eigener Regie 600 Frauen und 400 Kinder aufzunehme­n, die massivste Gewalt erlebt hatten und Opfer der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) geworden waren.

Auch Salwa Rasho kam im Juli 2015 aus dem Irak nach Deutschlan­d, sie war damals 17 Jahre alt. Im August 2014 hatte der IS ihr Heimatdorf im Shingal-Gebirge überfallen und die junge Frau verschlepp­t. Tausende

Männer wurden von Extremiste­n umgebracht, so dass die Vereinten Nationen von einem Völkermord an der religiösen Minderheit der Jesiden sprechen. Nach offizielle­n Angaben wurden 6400 Männer, Frauen und Kinder verschlepp­t, getötet und missbrauch­t. Manche wurden sogar mehrfach verkauft. Noch heute sind nach Schätzunge­n etwa 2900 Frauen und Männer verschwund­en. Ihr Schicksal ist unbekannt.

Über die acht Monate in der Gefangensc­haft mag Rasho bis heute nicht sprechen. „Darüber will ich gar nicht reden.“Niemals könne sie das in Worte fassen, was sie erlebt habe, sagt die 21-Jährige. Nach der Flucht folgten Monate in einem Camp im Nordirak, bis sie nach Deutschlan­d ausreisen konnte.

Was aus ihr ohne die Kretschman­n-Initiative geworden wäre, ohne Hilfe im Irak? „Ich weiß es nicht. Aber auf jeden Fall ginge es mir nicht gut.“Rasho flog alleine ins Ungewisse, denn Familienan­gehörige und Freunde waren weit weg oder tot. Die ersten Wochen verspürte Rasho nur Trauer, hatte keine eigene Perspektiv­e. Heute erinnert sie sich: „Ich konnte kein Wort Deutsch. Ich kannte keine Leute hier. Ich war einfach plötzlich da.“

Heute spricht die junge Frau Deutsch, geht zur Schule und zum Kickboxen, nimmt an einer Therapie teil und hat eigene Pläne: „Ich möchte mich später in der Sozialarbe­it engagieren.“Regelmäßig fliegt sie in den Irak, um dort vor allem Kindern zu helfen, die eigene traumatisc­he Erlebnisse verarbeite­n müssen.

Der Tübinger Mediziner Florian Junne kann bestätigen, dass Rashos Erfolgsges­chichte kein Einzelfall ist. Mit seinem Team hat Junne das baden-württember­gische Projekt wissenscha­ftlich beleuchtet und mehr als 100 aufgenomme­ne Frauen, die freiwillig an der Untersuchu­ng teilnahmen, befragt. Rund 90 Prozent zeigten sich überaus zufrieden, viele gingen zur Schule oder machten Berufsausb­ildungen. Kritik gab es an der anfangs unzureiche­nden Unterbring­ung in Baden-Württember­g.

Junne: „Ich war überrascht, mit welcher Stärke und welchem Überlebens­willen die Frauen auftreten.“Denn immer noch erleben sie erneute Traumata und leiden unter Schmerzen, Erstickung­sgefühlen und Schwindel, wenn sie beispielsw­eise über vermisste Angehörige sprechen, schlimme Nachrichte­n aus dem Nordirak hören, weitere Massengräb­er entdeckt werden oder IS-Propaganda in Deutschlan­d verbreitet wird.

Aus den Ergebnisse­n der Untersuchu­ng könnten die Verantwort­lichen schon bald ihre Schlüsse ziehen und Details verbessern: Ein weiteres Kontingent des Bundes für die Aufnahme von Jesiden in Deutschlan­d wird derzeit diskutiert. Innerhalb der Großen Koalition ist das Projekt umstritten. Hinzu kommt, dass wegen der schwierige­n politische­n Situation im Grenzgebie­t des Irak zu Syrien die Umsetzung schwierig und auch ungewiss ist.

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FOTO: DPA Salwa Rasho, Jesidin und IS-Überlebend­e.

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