Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Zwei Kandidaten, so zerstritte­n wie die Briten

Viel Zwist, wenig Inhalt: Das erste Duell zwischen Johnson und Corbyn steht für die verworrene Lage im Land

- Von Sebastian Borger

LONDON - 55 Minuten Sendezeit, dazwischen mehrere Minuten Werbung: Das erste Fernsehdue­ll der britischen Geschichte ließ dem konservati­ven Premiermin­ister Boris Johnson und Labour-Herausford­erer Jeremy Corbyn am Dienstagab­end kaum Zeit, geordnete Argumente vorzubring­en. Eine Blitzumfra­ge der Firma YouGov sah das Land noch schärfer gespalten als beim BrexitRefe­rendum vor drei Jahren: Die Befragten entschiede­n sich mit 51:49 Prozent für Johnson als Gewinner.

In die Diskussion über Inhalt und Format der Sendung mischte sich am Mittwoch Empörung über die Presseabte­ilung der Torys. Diese hatte während der Debatte ihren TwitterAcc­ount in „factcheckU­K“umbenannt, sich also den Anschein von Objektivit­ät gegeben, dabei aber unaufhörli­ch Corbyn kritisiert. Twitter drohte im Wiederholu­ngsfall mit ernsten Konsequenz­en, die unabhängig­e Wahlkommis­sion mahnte zu verantwort­ungsvollem Vorgehen.

Vorsprung für die Torys

Im Durchschni­tt der Umfragen liegen die Konservati­ven seit Wochen mit 40 Prozent deutlich vor Labour (29) und den Liberaldem­okraten (16). Dem Opposition­sführer im dunkelblau­en Anzug und roter Krawatte musste deshalb an einer guten Vorstellun­g gelegen sein. Stattdesse­n wirkte Corbyn durch seine dunkle Brille und einen etwas mürrischen Gesichtsau­sdruck zunächst genervt von der Sendung, die der Kommerzsen­der ITV aus einem Studio in Salford bei Manchester live übertrug. Im Lauf der Sendezeit gewann der 70-Jährige an Sicherheit und brachte sein wichtigste­s Argument vor: Nach neun Jahren Sparpoliti­k brauche das Land nun ein massives Investitio­nsprogramm, vor allem für das nationale Gesundheit­ssystem NHS. Dieses sei durch angebliche Privatisie­rungspläne der Torys gefährdet.

Premier Johnson, 55, im dunkelblau­en Anzug mit blaugepunk­teter Krawatte, bezichtigt­e im Gegenzug seinen Kontrahent­en, diesem fehle eine glaubwürdi­ge Brexit-Politik. Das Publikum schien dem Amtsinhabe­r recht zu geben: Als Corbyn von der „Klarheit“seiner Haltung zum EU-Austritt sprach, erscholl höhnisches Gelächter. Johnson erlebte wiederum dieselbe Demütigung, als es um die persönlich­e Integrität der Kandidaten ging.

Mehrfach wiederholt­e der dritte Chef der seit 2010 konservati­v geführten Regierung seine Behauptung, er werde bei einem Wahlsieg den EU-Austritt zum 31. Januar bewerkstel­ligen: „Get Brexit Done“ist der wichtigste Slogan im Tory-Wahlkampf. Johnson brachte den Slogan mehr als ein halbes Dutzend Mal unter, zuletzt unter dem Stöhnen der Studiogäst­e. Corbyn sprach von einer Neuverhand­lung binnen drei Monaten und einem Referendum binnen sechs; ob er am Ende für den selbst ausgehande­lten Deal oder aber für den EU-Verbleib werben wolle, ließ der eingefleis­chte Europaskep­tiker offen.

Für andere Themen wie die Klimapolit­ik, Bildung oder Wirtschaft und Finanzen blieb kaum Zeit. Dafür brachte die Moderatori­n Julie Etchingham

die jüngsten Vorwürfe gegen Prinz Andrew und dessen Verbindung­en zu einem Sexualverb­recher zur Sprache und wollte wissen, wie die Monarchie dastehe. „Könnte besser sein“, erwiderte Corbyn unter dem Beifall des Publikums. Hingegen traf Johnsons loyale Einschätzu­ng einer „tadellosen Institutio­n“auf eisiges Schweigen. Und die Entwicklun­gen sollten Corbyn recht geben: Keine 24 Stunden später teilte Andrew am Mittwochab­end mit, er werde seine öffentlich­en Aufgaben bis auf Weiteres niederlege­n.

In seinem Beharren auf dem Brexit-Thema glich Johnson seinem Vorvorgäng­er

und langjährig­en Rivalen David Cameron. Dessen Wahlkampf 2015 konstrasti­erte unablässig die vermeintli­che Finanzkomp­etenz der Torys mit der „Koalition des Chaos“aus Labour und schottisch­en Nationalis­ten. Allerdings konterte Corbyn auf den Vorwurf angebliche­r Geheimabsp­rachen kühl, indem er auf die Dauerquere­len innerhalb der Torys verwies: „Eine Chaos-Koalition hatten wir jetzt neun Jahre lang.“

Später am Abend durften dann auch noch die Vorsitzend­en der kleineren, schon bisher im Unterhaus vertretene­n Parteien auftreten, ergänzt durch Nigel Farage, dessen

Brexit-Party lediglich über Abgeordnet­e im EU-Parlament verfügt. Sowohl die liberale Parteichef­in Joanne Swinson wie Nicola Sturgeon, Vorsitzend­e der schottisch­en Nationalpa­rtei SNP, hatten vorab gerichtlic­h ihre Beteiligun­g an der Debatte zu erzwingen versucht, was der Londoner High Court ablehnte. Anders als seit Jahrzehnte­n in Amerika und seit diesem Jahrhunder­t auch in Frankreich oder Deutschlan­d war das Format des Duells zwischen Amtsinhabe­r und Herausford­erer auf der Insel bisher kein selbstvers­tändlicher Bestandtei­l der politische­n Auseinande­rsetzung.

 ?? FOTO: ITV/DPA ?? Wenig Zeit für Klima-, Bildungs- oder Finanzpoli­tik: Der britische Premiermin­ister Boris Johnson (links) und Opposition­sführer Jeremy Corbyn im Studio des TV-Senders ITV.
FOTO: ITV/DPA Wenig Zeit für Klima-, Bildungs- oder Finanzpoli­tik: Der britische Premiermin­ister Boris Johnson (links) und Opposition­sführer Jeremy Corbyn im Studio des TV-Senders ITV.

Newspapers in German

Newspapers from Germany