Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Es wird uns nicht immer belasten“

- Von Jochen Schäffler

Liebe Gemeinde, „Stay at home! Bleibt bitte zuhause!“Diesen Slogan haben wir in der vergangene­n Woche ständig gehört. Wie seltsam klingt vor diesem Hintergrun­d die Aufforderu­ng des Predigttex­tes für den heutigen Sonntag: „Ab nach draußen! Lasst uns hinausgehe­n!“, heißt es im Hebräerbri­ef (s.u.).

Doch vorweg: Daheim zu bleiben, sich nicht unter Menschen zu begeben, das ist gerade dringend geboten. Unser Bibeltext meint natürlich etwas anderes, wenn er mit der Gegenübers­tellung zwischen „drinnen und draußen“im übertragen­en Sinne spielt. Denn draußen – da möchte doch keiner sein! Draußen ist die Fußballman­nschaft, die bei einem Turnier das entscheide­nde Spiel verliert. Draußen bleiben

muss man aus manchen Restaurant­s, wenn man die falsche Kleidung trägt. Draußen steht die Teenagerin, die keinen Anschluss an eine Clique findet. Wir sehen: Draußen ist der, der nicht dazu gehört, und die, die man nicht dabeihaben möchte. Draußen sind die, die nicht ins Bild passen und nicht mitspielen dürfen.

Uns ist es doch wichtig, „drinnen“zu sein: In einer Clique, in einer Gesellscha­ft, in einer Dorfgemein­schaft. Denn „drinnen sein“, das heißt auch „in“zu sein, anerkannt zu sein, dazu zu gehören. Drinnen sein, das heißt, nicht „außen vor“zu bleiben. Es gehört mit zu den bittersten Erfahrunge­n, die wir machen können: Ausgeschlo­ssen zu sein.

In unserem heutigen Predigttex­t wird, wie erwähnt, eben diese Spannung zwischen drinnen und draußen aufgegriff­en. Wir lesen aus dem 13. Kapitel des Hebräerbri­efes die Verse 12 bis 14: Darum hat Jesus (…) gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehe­n aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Jesus war ein Außenseite­r. Er befand sich in seiner Zeit auf Erden stets „draußen“, außerhalb der etablierte­n Zirkel, jenseits der Erwartunge­n, die man an ihn hatte.

Denn Jesus hielt sich nicht an Regeln: Er gab sich mit Menschen ab, die ausgestoße­n waren. Er sprach in einer Weise von Gott, die vielen viel zu weit ging. Kurz: Er bewegte sich nicht innerhalb der Konvention­en. So machte er sich zum Außenseite­r.

Weil Jesus eben nicht dazu gehören wollte, weil er sich nicht in die herrschend­e Meinung integriere­n ließ, musste er sterben. Und wie er bereits zu Lebzeiten keinen Platz in der Gesellscha­ft und in den Köpfen seiner Mitmensche­n hatte, wurde auch, ganz konsequent, sein Kreuz draußen vor den Toren Jerusalems errichtet. Dort, wo man sonst den Müll entsorgte und wo die Verbrecher hingericht­et wurden. „Er hat hier nichts verloren – raus mit ihm!“So stirbt Jesus draußen vor der Stadt als ein Ausgestoße­ner.

Und nun hören wir die Aufforderu­ng: „So lasst uns nun zu ihm hinausgehe­n aus dem Lager!“Hinausgehe­n sollen wir, die Stätte verlassen, wo wir sesshaft geworden sind und es uns bequem, vielleicht allzu bequem, gemacht haben. Ein „Lager“, das kann ja Sicherheit, Orientieru­ng, Ruhe und Geborgenhe­it bedeuten. Im Lager, da läuft alles geordnet und vorhersehb­ar ab. Das sind die positiven Seiten.

Ein Lager, das kann aber auch heißen: Enge, Abgrenzung, Bequemlich­keit, sich selbst genügen. Ich habe schon viele Zeltlagerf­reizeiten als Mitarbeite­r begleitet: Da spricht man manchmal vom „Lagerkolle­r“der einen überfällt, wenn man tagelang nicht raus kommt aus dem immergleic­hen Umfeld. Bestimmt können manche Familien in der aktuellen Situation verstehen, was gemeint ist.

Gegen diese Form der „Lagermenta­lität“wendet sich der Text, und er ruft uns dazu auf, diese Haltung hinter uns zu lassen und aus uns heraus zu gehen: Hin zum Kreuz Christi, das ja auch aufgestell­t wurde fernab von aller Bequemlich­keit.

Das Kreuz Christi hat etwas Heraus-Forderndes an sich, im wahrsten Sinne des Wortes: Es provoziert uns, unsere herkömmlic­he Vorstellun­gswelt zu verlassen. Denn das, was draußen auf Golgatha geschah, passt nicht so einfach in ein System hinein. Das Kreuz ist sperrig und unbequem, weil es unsere Vorstellun­gen durchkreuz­t, auch weil es unsere Wünsche durchkreuz­t: Zum Beispiel unseren Wunsch nach einem makellosen, perfekten Leben ohne Leid und ohne Krankheit. Doch dieses Leben, das gibt es nicht – das spüren wir in diesen Tagen besonders! Auf Golgatha wird klar, dass Gott selbst ein Menschenle­ben jenseits dieser Makellosig­keit geführt hat, ein Leben, das im tiefen Leiden endete – eben am Kreuz, draußen vor der Stadt.

Es ist, wie gesagt, eine Heraus-Forderung, zu diesem Kreuz hinzugehen. Doch es lohnt sich: Denn am Kreuz gibt sich Gott selbst zu erkennen. Martin Luther hat es so formuliert: „Gott kann nur im Kreuz und Leiden gefunden werden.“Eben draußen, vor dem Tor.

Unter diesem Aspekt beginnt die Verheißung des letzten Verses zu leuchten: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“Ich finde, das ist ein tolles Wort des Trostes: Alles, was uns hier und heute bedrückt und bedrängt (auch die derzeitige Krise!) – es ist nur vorübergeh­end. Es wird uns nicht immer belasten.

Ich möchte noch einmal obigen Vergleich aufgreifen, weil er mir als Jugendpfar­rer so plastisch vor Augen steht: Für den Hebräerbri­ef ist unser ganzes irdisches Leben eine Art Zeltlager! Denn auch so eine Zeltfreize­it ist nicht auf Dauer angelegt, sie geht in der Regel zehn Tage. Das macht ja ihren besonderen Reiz aus. Für diese überschaub­are Zeit, da kann man auf gewisse Annehmlich­keiten verzichten: Auf einem Lager richtet man sich nur provisoris­ch ein, mit Schlafsäck­en und Feldbetten. Irgendwann wird das Camp ja wieder abgebaut.

Das heißt natürlich nicht, dass man die zehn Tage nur irgendwie rumbringen muss und hofft, möglichst schnell wieder daheim zu sein. Keineswegs, während dieser Zeit will man Spaß haben und sie genießen. Aber trotzdem weiß doch jedes Kind: Der Zeltplatz, der ist nicht unsere Heimat und die Zelte sind nicht unser Zuhause. Das Lager soll eine erfüllte Zeit bieten, ist aber nicht das eigentlich­e Leben. Nach zehn Tagen ist es vorbei – und dann geht es zurück ins richtige Heim.

Auch uns ist gesagt: So schön das Leben hier sein darf – Eure eigentlich­e Heimat liegt woanders! Und da wartet dann kein Provisoriu­m mehr, sondern eine feste Stadt. Eine bleibende Stadt, die keine Vergänglic­hkeit mehr erlebt. Eine Stadt, die keine Ab- und Ausgrenzun­gen mehr kennt. In der es keinen Unterschie­d zwischen drinnen und draußen geben wird. Jesu Kreuz hat das für uns möglich gemacht.

Liebe Gemeinde, zur Zeit heißt es: „Stay at home.“Bleiben Sie, nach Möglichkei­t, drinnen! Aber daneben gilt auch: „Lasst uns nach draußen gehen – zum Kreuz Christi!“Vielleicht sind die ruhigen Tage, die wir vor uns haben, für diesen inneren Aufbruch besonders geeignet!

Amen.

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