Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Es wird uns nicht immer belasten“
Liebe Gemeinde, „Stay at home! Bleibt bitte zuhause!“Diesen Slogan haben wir in der vergangenen Woche ständig gehört. Wie seltsam klingt vor diesem Hintergrund die Aufforderung des Predigttextes für den heutigen Sonntag: „Ab nach draußen! Lasst uns hinausgehen!“, heißt es im Hebräerbrief (s.u.).
Doch vorweg: Daheim zu bleiben, sich nicht unter Menschen zu begeben, das ist gerade dringend geboten. Unser Bibeltext meint natürlich etwas anderes, wenn er mit der Gegenüberstellung zwischen „drinnen und draußen“im übertragenen Sinne spielt. Denn draußen – da möchte doch keiner sein! Draußen ist die Fußballmannschaft, die bei einem Turnier das entscheidende Spiel verliert. Draußen bleiben
muss man aus manchen Restaurants, wenn man die falsche Kleidung trägt. Draußen steht die Teenagerin, die keinen Anschluss an eine Clique findet. Wir sehen: Draußen ist der, der nicht dazu gehört, und die, die man nicht dabeihaben möchte. Draußen sind die, die nicht ins Bild passen und nicht mitspielen dürfen.
Uns ist es doch wichtig, „drinnen“zu sein: In einer Clique, in einer Gesellschaft, in einer Dorfgemeinschaft. Denn „drinnen sein“, das heißt auch „in“zu sein, anerkannt zu sein, dazu zu gehören. Drinnen sein, das heißt, nicht „außen vor“zu bleiben. Es gehört mit zu den bittersten Erfahrungen, die wir machen können: Ausgeschlossen zu sein.
In unserem heutigen Predigttext wird, wie erwähnt, eben diese Spannung zwischen drinnen und draußen aufgegriffen. Wir lesen aus dem 13. Kapitel des Hebräerbriefes die Verse 12 bis 14: Darum hat Jesus (…) gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Jesus war ein Außenseiter. Er befand sich in seiner Zeit auf Erden stets „draußen“, außerhalb der etablierten Zirkel, jenseits der Erwartungen, die man an ihn hatte.
Denn Jesus hielt sich nicht an Regeln: Er gab sich mit Menschen ab, die ausgestoßen waren. Er sprach in einer Weise von Gott, die vielen viel zu weit ging. Kurz: Er bewegte sich nicht innerhalb der Konventionen. So machte er sich zum Außenseiter.
Weil Jesus eben nicht dazu gehören wollte, weil er sich nicht in die herrschende Meinung integrieren ließ, musste er sterben. Und wie er bereits zu Lebzeiten keinen Platz in der Gesellschaft und in den Köpfen seiner Mitmenschen hatte, wurde auch, ganz konsequent, sein Kreuz draußen vor den Toren Jerusalems errichtet. Dort, wo man sonst den Müll entsorgte und wo die Verbrecher hingerichtet wurden. „Er hat hier nichts verloren – raus mit ihm!“So stirbt Jesus draußen vor der Stadt als ein Ausgestoßener.
Und nun hören wir die Aufforderung: „So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager!“Hinausgehen sollen wir, die Stätte verlassen, wo wir sesshaft geworden sind und es uns bequem, vielleicht allzu bequem, gemacht haben. Ein „Lager“, das kann ja Sicherheit, Orientierung, Ruhe und Geborgenheit bedeuten. Im Lager, da läuft alles geordnet und vorhersehbar ab. Das sind die positiven Seiten.
Ein Lager, das kann aber auch heißen: Enge, Abgrenzung, Bequemlichkeit, sich selbst genügen. Ich habe schon viele Zeltlagerfreizeiten als Mitarbeiter begleitet: Da spricht man manchmal vom „Lagerkoller“der einen überfällt, wenn man tagelang nicht raus kommt aus dem immergleichen Umfeld. Bestimmt können manche Familien in der aktuellen Situation verstehen, was gemeint ist.
Gegen diese Form der „Lagermentalität“wendet sich der Text, und er ruft uns dazu auf, diese Haltung hinter uns zu lassen und aus uns heraus zu gehen: Hin zum Kreuz Christi, das ja auch aufgestellt wurde fernab von aller Bequemlichkeit.
Das Kreuz Christi hat etwas Heraus-Forderndes an sich, im wahrsten Sinne des Wortes: Es provoziert uns, unsere herkömmliche Vorstellungswelt zu verlassen. Denn das, was draußen auf Golgatha geschah, passt nicht so einfach in ein System hinein. Das Kreuz ist sperrig und unbequem, weil es unsere Vorstellungen durchkreuzt, auch weil es unsere Wünsche durchkreuzt: Zum Beispiel unseren Wunsch nach einem makellosen, perfekten Leben ohne Leid und ohne Krankheit. Doch dieses Leben, das gibt es nicht – das spüren wir in diesen Tagen besonders! Auf Golgatha wird klar, dass Gott selbst ein Menschenleben jenseits dieser Makellosigkeit geführt hat, ein Leben, das im tiefen Leiden endete – eben am Kreuz, draußen vor der Stadt.
Es ist, wie gesagt, eine Heraus-Forderung, zu diesem Kreuz hinzugehen. Doch es lohnt sich: Denn am Kreuz gibt sich Gott selbst zu erkennen. Martin Luther hat es so formuliert: „Gott kann nur im Kreuz und Leiden gefunden werden.“Eben draußen, vor dem Tor.
Unter diesem Aspekt beginnt die Verheißung des letzten Verses zu leuchten: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“Ich finde, das ist ein tolles Wort des Trostes: Alles, was uns hier und heute bedrückt und bedrängt (auch die derzeitige Krise!) – es ist nur vorübergehend. Es wird uns nicht immer belasten.
Ich möchte noch einmal obigen Vergleich aufgreifen, weil er mir als Jugendpfarrer so plastisch vor Augen steht: Für den Hebräerbrief ist unser ganzes irdisches Leben eine Art Zeltlager! Denn auch so eine Zeltfreizeit ist nicht auf Dauer angelegt, sie geht in der Regel zehn Tage. Das macht ja ihren besonderen Reiz aus. Für diese überschaubare Zeit, da kann man auf gewisse Annehmlichkeiten verzichten: Auf einem Lager richtet man sich nur provisorisch ein, mit Schlafsäcken und Feldbetten. Irgendwann wird das Camp ja wieder abgebaut.
Das heißt natürlich nicht, dass man die zehn Tage nur irgendwie rumbringen muss und hofft, möglichst schnell wieder daheim zu sein. Keineswegs, während dieser Zeit will man Spaß haben und sie genießen. Aber trotzdem weiß doch jedes Kind: Der Zeltplatz, der ist nicht unsere Heimat und die Zelte sind nicht unser Zuhause. Das Lager soll eine erfüllte Zeit bieten, ist aber nicht das eigentliche Leben. Nach zehn Tagen ist es vorbei – und dann geht es zurück ins richtige Heim.
Auch uns ist gesagt: So schön das Leben hier sein darf – Eure eigentliche Heimat liegt woanders! Und da wartet dann kein Provisorium mehr, sondern eine feste Stadt. Eine bleibende Stadt, die keine Vergänglichkeit mehr erlebt. Eine Stadt, die keine Ab- und Ausgrenzungen mehr kennt. In der es keinen Unterschied zwischen drinnen und draußen geben wird. Jesu Kreuz hat das für uns möglich gemacht.
Liebe Gemeinde, zur Zeit heißt es: „Stay at home.“Bleiben Sie, nach Möglichkeit, drinnen! Aber daneben gilt auch: „Lasst uns nach draußen gehen – zum Kreuz Christi!“Vielleicht sind die ruhigen Tage, die wir vor uns haben, für diesen inneren Aufbruch besonders geeignet!
Amen.