Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Eine Kindheit ohne Liebe und die Flucht in die Kunst
In seinem Roman „Der Mangel“erzählt Oskar Roehler die fiktiv-autobiografische Geschichte eines Jungen
Man müsse sich „quasi mit dem Messer zwischen den Zähnen“durchs Leben kämpfen, getreu dem Thomas Mannschen „Trotzdem“, wird dem kleinen Jungen, von dem Oskar Roehler in seinem neuen Roman „Der Mangel“erzählt, schon früh eingeschärft. Und nach Thomas Manns Satz „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“sucht auch der Filmregisseur und Autor Roehler („Die Unberührbare“) nach den „Quellen des Lebens“, wie die eigene Verfilmung seines weitgehend autobiografischen Romans „Herkunft“heißt. Im neuen Roman „Der Mangel“schildert er den Überlebenskampf eines Kindes und die folgende Selbstbehauptung als Künstler, teilweise in eindrücklichen Bildern und dann auch wieder arg metaphernhaft.
Als der kleine Junge im Roman einmal an der Tür des Elternzimmers lauscht, hört er über sich sagen, er sei „im Begriff, gewisse Symptome von Wahnsinn zu zeigen“. Später wird der erwachsen gewordene Erzähler von einer „permanenten Angst und einem permanenten Druck“als „ständige Begleiter meines unsteten und unruhigen Lebens“sprechen, auch von einem Selbstmordversuch.
Roehler erzählt einerseits von einer kleinen Gruppe von Kindern Anfang der 60er-Jahre (Roehler wurde 1959 geboren) in einer im Bau befindlichen Siedlung von Einfamilienhäusern im trostlosen damaligen „Zonenrandgebiet“, wie die westdeutsche Seite zur DDR genannt wurde. Andererseits erzählt der Autor auch von den späteren Rettungsversuchen in ein Künstlerleben einschließlich neuer Enttäuschungen. „Es war nie um anderes gegangen, als die Jahre 1963 bis 1965 heraufzubeschwören und unsere Kindheit an einen sicheren Ort, nämlich zu Papier zu bringen“, heißt es in dem Buch.
Bei Roehler ist es eine Kindheit, die nach der Mangelgesellschaft der Eltern in der frühen Nachkriegszeit einen Mangel an Zuwendung und Wärme erlebt. Dabei geht der Autor mit der Elterngeneration in den rebellischen 60er-Jahren hart ins Gericht. „Für die Befindlichkeiten ihrer Kinder hatten sie überhaupt keine Zeit.“
Bei Roehler folgte die Flucht in die eigene Fantasiewelt, in Kunst und Kultur, zu Beckett, Kafka und Thomas Bernhard. Mit 24 trieb sich der Ich-Erzähler „völlig verloren und ohne Ziel in Westberlin herum“, in der politischen Halbstadt mit ihrer Subkultur und ohne Wehrpflicht in der damaligen Bonner Republik, die an der Spree „Westdeutschland“genannt wurde.
Die fiktiv-autobiografische und parabelhafte Geschichte erzählt Roehler in teils beklemmenden Bildern, wobei auch Pathos nicht zu kurz kommt. Jedenfalls hat Roehler wieder den „Humus“seines Lebens benutzt, wie er schon früher einmal über seine Arbeiten sagte. Und Roehler schildert erneut die Schwierigkeiten, mancher oder vieler Menschen, „überhaupt ins Leben reinzukommen“oder sogar an ihrer Selbstverwirklichung zu zerbrechen.
Oskar Roehler: Der Mangel, Ullstein Verlag, 176 Seiten, 23 Euro