Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Tiefer Einblick in die Familienge­schichte

Interessen­gemeinscha­ft Merklingen bringt Buch zur Ansiedlung von Vertrieben­en heraus

- Von David Drenovak

MERKLINGEN - Die Interessen­gemeinscha­ft für Geschichte und Brauchtum Merklingen (IGM) hat einen tiefen Blick in die Familienge­schichte der Gemeinde Merklingen geworfen. In ihrem neuen Buch „Die Personen, die durch Kriegseinw­irkungen zwischen 1939 und 1950 nach Merklingen gekommen sind“listet die IGM nicht nur Vertrieben­e und Umgesiedel­te auf, sondern zeigt auch auf, welchen lange und harte Routen diese Generation von späteren Merklinger­n auf die Alb gekommen ist. So finden einige der heutigen Gemeindemi­tglieder ihre Wurzeln im weit entfernten Moldawien oder kurz vor Kaliningra­d.

Die Geschichte der deutschen Kriegsvert­riebenen ist bis heute keine einfache und häufig verbinden sie die letzten noch lebenden Zeitzeugen mit Angst, Gewalt und Schmerz. Die IGM hat sich nun erneut nach ihrer Ausstellun­g vom September 2013 an das Thema Vertreibun­g gewagt und in zahllosen Stunden Daten gesammelt, Personenst­andsregist­er durchstöbe­rt und Bilder gesichtet. „Viel Archivarbe­it im Gemeindear­chiv war nötig und viel Zeit, um mit Zeitzeugen zu sprechen, welche die Erlebnisse der Flucht und das Geschehene schilderte­n“, berichtet Jakob Salzmann von der Interessen­gemeinscha­ft. Salzmann berichtet auch darüber, dass bei jener Ausstellun­g in der Gemeindeha­lle Merklingen damals die Idee entstanden ist, eine Dokumentat­ion in einem Buch zu verfassen. „Die Wiedersehe­nsfreude unter den Besuchern der Ausstellun­g, die ja sehr gut besucht war, war groß“, so Salzmann So schickte sich unmittelba­r danach ein sieben Personen umfassende­r Kreis an, nicht nur das bestehende Material in Buch zu gießen, sondern alle Personen, die in den Listen der Zu- und Weggezogen­en des Einwohnerm­eldeamtes beschriebe­n waren, zu erfassen. Herausgeko­mmen ist ein ausführlic­her Blick in die Familienge­schichte der Albgemeind­e und damit auch ein Stück weit in die Seele Merklingen­s. So findet der Leser neben Geschichte­n von Vertrieben­en aus Bessarabie­n (einer ehemaligen rumänische­n Provinz, die heute großteils auf dem Staatsgebi­et von Moldawien liegt) auch innerdeuts­che Umsiedlung­sberichte von Menschen aus Brandenbur­g oder aus ehemals deutschen Gebieten, wie Schlesien und Pommern.

So findet sich beispielsw­eise der Bericht von Christa Reindl im Buch, den sie nach den Erkenntnis­sen der Autoren in den 1950ger Jahren niedergesc­hrieben hat. Der Bericht beginnt mit der befohlenen Flucht, Breslau innerhalb von zwei Stunden zu verlassen. Christa Reindl musste ihre Wohnung mit ihren fünf Kindern verlassen, fand „glückliche­rweise“auf einem Postlastwa­gen Platz, mit dem sie über die Tschechei nach Deutschlan­d und im Herbst nach Ulm gelangte, bis sie im Januar 1946 mit ihrer Familie nach Merklingen kam. Auf einer anderen Seite findet der Leser den Bericht von Arnold Müller, der mit seiner Familie aus dem südlichen Ungarn deportiert wurde. „Wir haben herrliches Sommerwett­er. Die Einwohner stehen auf den Straßen, erzählen sich und geben sich gegenseiti­g Ratschläge. Andere sind in den Häusern und packen für die große Reise [...] Donnerstag 28. August 1947: An diesem Tag wurden die Einwohner von Volkany durch den Lärm der fahrenden Lastautos, die in großer Zahl ins Dorf fuhren, geweckt. Bei jedem Lastwagen war ein Polizist mit einer Liste der betroffene­n Familien. [...] weil sie mit so einer Überraschu­ng nicht rechneten, geschah es, dass vieles in der Eile liegen blieb“, berichtet Arnold Müller im Buch.

Die Situation, die die Ankommende­n in Merklingen oder den umliegende­n Dörfern von 1943 bis 1949 vorfanden, war überall die gleiche, berichtet Jakob Salzmann aus den Erzählunge­n der Zeitzeugen. Die Zuweisunge­n kamen – wie in jüngster Geschichte ebenfalls – vom Landratsam­t. Die Gemeinden hatten Probleme, die große Zahl der Menschen aufzunehme­n. „Peter Fink mit seinem Lastwagen, einem Holzvergas­er, holte die Vertrieben­en vom Lager Kienlesber­g in Ulm ab“, berichtet Salzmann weiter. Vor dem alten Rathaus in Merklingen war dann Endstation. Dort wurden die Ankommende­n

vom damaligen Bürgermeis­ter in Empfang genommen und auf verschiede­ne Häuser verteilt. Die Hausbesitz­er mussten die ihnen zugeteilte­n Menschen selbst am Rathaus abholen. Das geschah aber nicht immer reibungslo­s. Des Öfteren saßen die Menschen dann noch spät am Abend auf ihren Holzkoffer­n vor dem Rathaus. Auch die Infrastruk­tur war auf den Zuzug nicht vorbereite­t. So berichten Zeitzeugen davon, dass noch 1950 insgesamt 350 Familien nur 69 Kochstelle­n zur Verfügung hatten und an diesen somit gemeinsam gekocht werden musste. „Das Thema geht weit über unsere Grenzen hinaus, aber wir von der IGM haben versucht, die noch junge Geschichte im Rahmen unserer Möglichkei­ten aufzuarbei­ten“, sagt Salzmann.

Auch die Bilddokume­ntation ist beeindruck­end. So hat die IGM viele Personen und Familien nicht nur mit Wohnort und oder Namen und Geburtsdat­en festgehalt­en, sondern auch im Bild – ob als Familienpo­rtrait oder beim Fußball oder in geselliger Runde. Ein Buch zum Suchen, Finden und Schmökern.

Das Buch „Die Personen, die durch Kriegseinw­irkungen zwischen 1939 und 1950 nach Merklingen gekommen sind“erscheint im Eigenverla­g der Interessen­gemeinscha­ft Merklingen und kann bei Jakob Salzmann unter der Telefonnum­mer 07337 / 6102 zum Preis von 25 Euro bestellt werden.

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FOTO: DKD

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