Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Quasimodo und die Quitten
Was haben neugeborene Kinder, die Pariser Kathedrale Notre Dame und die Corona-Krise miteinander zu tun? Eigentlich nichts – abgesehen von gewissen Assoziationsketten, die sich einem unwillkürlich aufdrängen, wenn man über bestimmte Wörter länger nachdenkt.
Am letzten Sonntag war Weißer Sonntag. Oder war Quasimodogeniti? Beides trifft zu, aber der Name variiert – je nachdem, ob man katholisch ist oder evangelisch. Weißer Sonntag ist eine Übersetzung des lateinischen Dominica in albis und spielt wohl auf die weißen Gewänder an, mit denen die in der Osternacht neu getauften frühen Christen zum Abschluss der Osterwoche noch einmal in die Kirche einzogen. Weiß war dann auch die traditionelle Farbe bei der bis vor wenigen Jahrzehnten fast ausschließlich an diesem Sonntag gefeierten Erstkommunion.
Beim evangelischen Quasimodogeniti stoßen wir allerdings auf ein bemerkenswertes Phänomen. Die katholischen Sonntage werden nach dem Weißen Sonntag, dem 2. Sonntag in der Osterzeit, schlicht durchgezählt – also 3. Sonntag in der Osterzeit, 4. Sonntag in der Osterzeit etc. Die Protestanten hingegen haben die alten lateinischen Namen beibehalten – und das obwohl doch für die Reformatoren der Gottesdienst in der Volkssprache als eine der wichtigsten Errungenschaften galt und Latein deswegen eher verpönt war. So heißt der 1. Sonntag nach Ostern eben Quasimodogeniti. Abgeleitet ist der Name vom Eröffnungsvers der Tagesliturgie aus dem 1. Petrusbrief (2,2): Quasi modo geniti infantes…. In heutiges Deutsch übertragen: Wie neugeborene Kinder nach Milch schreien, so sollt ihr nach dem unverfälschten Wort Gottes verlangen. Nach diesem Muster der Anfangsverse richten sich auch die Namen der weiteren Sonntage zwischen Quasimodogeniti und Pfingsten: Misericordias Domini, Jubilate, Cantate, Rogate und Exaudi. Und weil man sich diese lateinische Abfolge nicht so leicht merken kann, hat sich irgendjemand auch eine Eselsbrücke ausgedacht: Quitten Müssen Junge Christen Roh Essen. Was aber wenig zielführend ist, weil man davon nicht im Glauben gestählt wird, sondern allenfalls Bauchweh bekommt. Unsere heimischen Quitten sind roh ungenießbar.
Nun kennen wir Quasimodo auch aus einem anderen Zusammenhang. So heißt in Victor Hugos berühmtem Roman von 1831 der missgestaltete Glöckner von Notre-Dame, der sich hoffnungslos in die Zigeunerin Esmeralda verliebt – unvergesslich gespielt von Charles Laughton in der Verfilmung von 1939. Und warum dieser seltsame Name? Weil der Dompropst der Kathedrale das arme, hässliche Findelkind am Morgen des Sonntags Quasimodogeniti vor dem Portal entdeckt und unter seinen Schutz nimmt.
Wie wirkmächtig Literatur doch sein kann, mögen zwei Dinge belegen: Wenige Tage nach dem verheerenden Brand von Notre-Dame im April vor einem Jahr schnellte Hugos altehrwürdiger Roman an die Spitze der Bestseller-Listen in Frankreich, und auch in anderen Ländern war das Buch mit seiner schillernden Darstellung des Lebens rund um die mittelalterliche Kathedrale plötzlich wieder hochaktuell. Eine anrührende Geste ist zudem, dass die französischen Ingenieure die Maschinerie, mit der das geschmolzene Gerüst auf dem Dach der Kirche behutsam entfernt werden soll, nach dem buckligen Glöckner Quasimodo genannt haben – späte Ehre für eine geschundene Kreatur.
Derzeit sind die Arbeiten wegen der Corona-Krise eingestellt. Quasimodo im Wartestand – wie wir alle.
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