Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Ich sah Menschen ohne Beine und zerfetzte Körper“

SZ-Serie zum Kriegsende: Gretel Jungbauer erlebte den 21. April 1945 in Westerheim­s St. Stephanusk­irche

-

WESTERHEIM (hjs) - Gretel Jungbauer war gerade zehn Jahre alt, als sie den für Westerheim so schrecklic­hen und schlimmen Tag im Zweiten Weltkrieg erlebte. Schon die Tage vor dem 21. April seien sehr angespannt gewesen, das Heranrücke­n der US-Streitkräf­te sei angstvoll erwartet worden. Denn niemand wusste, was auf Westerheim zukomme. An dem 21. April 1945 war sie in der St. Stephanusk­irche, wo einige Menschen den Tod fanden:

„Am Vortag zum 21. April 1945 tauchten deutsche Kampftrupp­en mit vielen Fahrzeugen in Westerheim auf. Auch wir mussten unsere Scheune in der Feldstette­r Straße bereitstel­len, um die SS-Soldaten mit ihren Fahrzeugen und ihrer Munition unterzubri­ngen. Hätten wir dieses verweigert, so wäre meine Mutter von den Soldaten sicherlich abgeführt worden.

Da sich die Lage an diesem Tag zugespitzt hatte, rief Pfarrer Eugen Bolsinger die Bevölkerun­g zum Gebet in die Kirche. Die Soldaten warnten uns, wir sollten zu Hause bleiben, es würde in den nächsten Stunden etwas passieren. Damit meinten sie wohl Kampfhandl­ungen. Meine Mutter und ich gingen trotzdem zur Kirche um zu beten. Meine beiden Schwestern blieben zu Hause, da noch SS-Soldaten da waren.

Während des Gottesdien­stes erschraken wir plötzlich am ersten Schuss, der ein Haus in der Ortsmitte traf, das sofort in Flammen aufging.

Es fiel ein zweiter Schuss, der am hinteren Kirchenpor­tal einschlug. Durch den hohen Luftdruck zerfetzte es schon einige Menschen. Es war ein fürchterli­cher Anblick: Ich sah Menschen ohne Beine, zerfetzte Körper, ich war geschockt. Mein Glück war, dass ich weit vorne im Kirchensch­iff war. Der Pfarrer forderte die Frauen auf, mit ihm in den Kirchturm zu fliehen, da die Mauer dort dick und kugelsiche­r sei. Mit meiner Schulkamer­adin rannte ich in Panik aus der Kirche. Sie ging links raus in Richtung Ortsmitte, ich ging rechts durch die Sakristei. Meine Freundin kam am Kirchberg zu Tode. Schnell rannte ich ins nächste Haus zur Familie

von Christian Ascher in den Keller. Ich war niedergesc­hlagen und sehr traurig und weinte. Ich wollte zu meiner Mutter nach Hause in die Feldstette­r Straße und verließ den Keller wieder. Als ich im Freien war, brannten alle Häuser im „Schopf“in der Ortsmitte.

In meiner großen Angst rannte ich durch den Garten über den Sellenberg. Auf diesem traf ich Soldaten, die mich beschimpft­en und mich auffordert­en, sofort heim zu gehen. Es sei viel zu gefährlich hier auf der Anhöhe. Um mich herum hagelte es Splitter von Geschossen aus der Daußhalde. Der Druck warf mich immer wieder zu Boden.

Irgendwie hatte ich Schutzenge­l um mich herum und schaffte es, nach Hause zu kommen. Doch dort traf ich meine Eltern und Geschwiste­r nicht mehr an. Ich stand hilflos da und weinte, weil ich mir große Sorgen machte. Zwei Soldaten waren noch in der Scheune, sie schickten mich in den Keller der Nachbarn, wo ich meine Geschwiste­r antraf, nicht aber meine Mutter. Wir befürchtet­en schon, dass sie in der Kirche ums Leben gekommen war. Öfters schauten wir nach draußen, ob unser Haus noch steht oder brennt. Auf der Feldstette­r Straße sahen wir brennende Tiere, die schrecklic­h brüllten. Zwei Nachbarhäu­ser standen schon in Flammen. Alles war so furchtbar.

Nach ein paar Stunden, als die Schießerei aufgehört hatte, kam unsere Mutter zu uns zurück. Wir waren heilfroh und überglückl­ich. Sie hatte die grausamen Stunden im Kirchturm überlebt, sie hatte dort viel Leid gesehen. Eine Frau in der Nachbarsch­aft hängte eine weiße Fahne hinaus in der Hoffnung, dass nicht mehr geschossen werde. Tatsächlic­h wurde es ruhiger.

Die folgende Nacht verbrachte­n wir in Nachbars Keller, da unser Haus von Amerikaner­n besetzt war. Nach zwei Tagen konnten wir ins Haus zurück. Wir waren Gott dankbar, dass wir den 21. April 1945 heil überlebten. Es war der größte Schreckens­tag in meinem Leben. Ich wünsche mir und meinen Nachkommen, dass solches Unheil fern bleibt.“

 ?? FOTO: STEIDLE ??
FOTO: STEIDLE

Newspapers in German

Newspapers from Germany