Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Die roten Fahnen müssen wehen
Die Lage der Arbeiter zum Tag der Arbeit in Zeiten der Corona-Pandemie ist bedrohlich: Hunderttausende Menschen sind in Kurzarbeit, die Zahl der von Insolvenz bedrohten Unternehmen steigt, noch ist in vielen Branchen nicht absehbar, wann sie ihren Betrieb wieder aufnehmen dürfen. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) rechnet 2020 mit einem wirtschaftlichen Einbruch von 6,3 Prozent. Die Arbeitslosenquote könnte im Jahresschnitt auf 5,8 Prozent steigen.
Gerade in solchen Zeiten ist die Soziale Marktwirtschaft – verstanden als gesellschaftspolitisches Leitbild, in dem wirtschaftlicher Wettbewerb und sozialer Fortschritt aufeinander bezogen sind – besonders gefordert. Und bei allen berechtigten Sorgen, die viele Arbeitnehmer zurzeit bewegen, bewährt sich das auf Alfred Müller-Armack zurückgehende Konzept, der es als Staatssekretär unter Wirtschaftsminister Ludwig Erhard entwickelte. Augenscheinlich wird das etwa im Hinblick auf die USA, die auf eine Marktwirtschaft setzen, in der das Element des sozialen Ausgleichs eine wesentlich geringere Rolle spielt. Während seit Anfang März rund 26 Millionen Amerikaner ihren Job verloren haben und Experten die Arbeitslosenquote auf etwa 15 Prozent taxieren, verhindert in Deutschland der Staat durch das Instrument der Kurzarbeit die Entlassung von Millionen Beschäftigten. Das Sozialsystem fängt Arbeitnehmer ohne Job durch die Zahlung von Arbeitslosengeld auf. Die Arbeitnehmermitbestimmung in den Betrieben und die Sozialpartnerschaft, bei der Arbeitgeber und Gewerkschaften ohne den Staat Löhne aushandeln, sichert in den meisten Branchen auskömmliche Arbeitsverhältnisse.
Die Instrumente werden die gravierenden Folgen der Rezession für die Arbeitnehmer nicht verhindern, sie werden sie aber abmildern. Der Tag der Arbeit ist dennoch nicht obsolet: Denn die Pandemie zeigt auch, dass den Gewerkschaften die Arbeit nicht ausgeht und viele systemrelevante Berufe wie Pflegekräfte und Verkäufer trotz allem nicht angemessen bezahlt werden. Die roten Fahnen müssen also weiter wehen.