Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Gespenstische Stille auf dem Mont Saint-Michel
Die berühmte Klosterinsel in der Normandie ist seit Wochen abgeschnitten von der Welt
BONN/AVRANCHES (KNA) - Bürgermeister Yann Galton fühlt sich an seine Kindheit erinnert. Diese Ruhe und Beschaulichkeit. Als kleiner Junge spielte der heute 73-Jährige hier mit seinem Holzschwert Ritter, wie er einer Reporterin dieser Tage erzählte. Natürlich gab es auch in den 1950er-Jahren schon Touristen am Mont Saint-Michel. Aber nicht diesen Massenansturm, der sich alljährlich zu Millionen über die Klosterinsel ergießt.
Ein Ort der Stille ist der Besuchermagnet an der Grenze zwischen Normandie und Bretagne schon sehr lange nicht mehr gewesen. Nun bringt das Coronavirus die Ruhe auf die Insel zurück – allerdings mit fadem Beigeschmack. Denn für die Bewohner der winzigen 30-Seelen-Gemeinde ist die Stille nicht wirklich himmlisch, sondern teilweise sogar gespenstisch. Andenkenläden, Cafés und Restaurants, die sonst Hundertund Tausendschaften an Tagestouristen versorgen, sind mit dem Shutdown Mitte März schlagartig beschäftigungslos geworden. Und Staatspräsident Emmanuel Macron will bis voraussichtlich August überhaupt keine ausländischen Touristen mehr ins Land lassen. Dann immerhin ist die innerfranzösische Feriensaison.
Der Mont Saint-Michel nahe der Grenze zwischen Normandie und Bretagne ist ein einzigartiges Denkmal mittelalterlicher Kloster- und Festungsarchitektur in Frankreich, Teil des Unesco-Weltkulturerbes. Jährlich kommen zwei bis drei Millionen Besucher zu der einstigen Klosterinsel, die erst seit 1879 durch einen Damm mit dem Festland verbunden ist und so touristisch erschlossen wurde.
Allerdings konnten durch diese Zufahrt die angelandeten Sedimente bei Hochwasser nicht wieder abfließen. Die Insel verlandete und wurde mehr und mehr Teil des Festlands. Nach über 100 Jahren wurden seit 1995 mehrere Hundert Millionen Euro in die Hand genommen, um diese Bausünden rückgängig zu machen. Mit Hochdruck wird heute der Sand aus der Bucht geschwemmt, allein durch die Wasserkraft des Flüsschens Couesnon. Experten gehen davon aus, dass durch die neue Stauanlage bis 2025 bis zu 80 Prozent der Sedimente verschwinden könnten.
Und es entstand zumindest wieder ein wenig mehr von jenem Eindruck, den einst die mittelalterlichen Pilger hatten, wenn sie sich dem „Heiligen Berg“nach oft wochenlanger Wallfahrt näherten.
Die Geschichte des Mont SaintMichel beginnt in einem Gespinst aus Legenden und Mythen. Die sagenhaften Anfänge des Klosters gehen auf das Jahr 708 zurück. Der Erzengel Michael erschien demnach dem heiligen Bischof Autbertus von Avranches im Traum und wies ihm den Ort für die Gründung eines Kirchleins auf dem ehemaligen Totenberg der Kelten inmitten der Wälder von Scissy. Autbertus ließ aus
Süditalien Reliquien zur Ausstattung der Kirche holen. Doch kurz darauf suchte die große Flut von 709 die Küste der Normandie heim. Bei ihrer Rückkehr fanden die Emissäre anstelle von Wäldern nur noch ein nacktes Eiland aus Granit inmitten von Sand. Dennoch errichteten sie ihre Kirche für anfangs zwölf Kanoniker. Von Beginn an zog der Michaelsberg Pilger an – und bot Schutz gegen die Wikinger. Ein Dorf am Fuß des Klosters entstand, und die Abtei entwickelte sich zur meistbesuchten Wallfahrtsstätte Frankreichs nach dem Grab des heiligen Martin in Tours. Anfang des 13. Jahrhunderts gelang eines der größten architektonischen und logistischen Meisterwerke des Mittelalters: die dreigeschossigen gotischen Gebäude der „Merveille“(Wunder), 1228 gekrönt von einem Kreuzgang mit 227 Säulen.
Jedem Eindringling hielt die Gottesburg stand. Doch nach Jahrhunderten geistlichen Niedergangs stürzten 1780 drei Joche der Kirche ein. König Ludwig XVI. machte Teile des Klosters zum Staatsgefängnis; Revolutionstruppen beendeten 1790 das religiöse Leben. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts blieb der Mont SaintMichel üble Haftanstalt – und wurde danach zum Objekt romantischen Schwärmertums und schließlich des Tourismus. Seit 1874 steht er unter Denkmalschutz. Erst seit 1966 wohnen hier wieder Ordensleute: zunächst Benediktiner, seit 2001 die Fraternité Monastiques de Jérusalem, derzeit rund ein Dutzend Männer und Frauen.
2012 wurden die früher allgegenwärtigen Parkplätze ins Hinterland verlagert. Damit ist die Blechlawine der Tagestouristen verschwunden. Händler und Restaurantbesitzer schimpften allerdings seither über verschlechterte Anreisebedingungen für ihre Kunden und für den Verkehr von Waren und Angestellten. Doch die derzeitige Lage ist schlimmer, viel schlimmer.
Der größte Arbeitgeber der Insel, Eric Bellon, Pächter des legendären Hotelrestaurants La Mère Poulard, musste von einem Tag auf den anderen seine rund 250 Angestellten aufs Festland zurückschicken. 1888 von Meisterköchin Annette Poulard gegründet, einer der ersten weiblichen Küchenchefs in Frankreich, erlebt das Traditionshaus derzeit die wohl schwerste Krise seiner 132-jährigen Geschichte. Einst aßen hier Maggie Thatcher und Francois Mitterrand ein Omelette zusammen, dinierten hier Ernest Hemingway, Pablo Picasso oder Feldmarschall Montgomery. 2020: niemand.
Immerhin: Eine Gruppe am Mont Saint-Michel dürfte die neue Ruhe uneingeschränkt genießen: die Schafe, eine regionale Spezialität, die auch bei Mère Poulard angeboten werden. Besonders würzige Lämmer, die die vom Grundwasser des Meeres getränkten Halme der Salzwiesen (frz. „prés salés“) fressen. In einem beliebten französischen Wortspiel ordert man „Présalé“: Vorgesalzenes.