Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Noch schlimmer als die Pest: die „Spanische Grippe“im Jahre 1918
Im Mai 1918 berichteten spanische Zeitungen zum ersten Mal über eine schlimme Influenza-Pandemie, die mit starkem Fieber, Schüttelfrösten, Kopf- und Gliederschmerzen die Menschen erfasste und wenn dann auch noch eine Lungenentzündung hinzukäme, bedeute dies den sicheren Tod des Infizierten. Vor allem Menschen in der Mitte des Lebens, etwa zwischen zwanzig und vierzig Jahren, erlägen dieser Krankheit. In Deutschland hielt man diese Pandemie für eine lokale Grippewelle in Spanien und sprach deshalb von der „Spanischen Grippe“. Dabei hätte man es besser wissen können, denn an den Kriegsfronten wurden bereits zu dieser Zeit immer mehr Soldaten von der Krankheit befallen, und zwar bei allen Krieg führenden Nationen: sowohl bei den Mittel- als auch den Entente-Mächten und natürlich auch in den US-amerikanischen Camps. Aber darüber durften die deutschen Zeitungen, die der Pressezensur unterlagen, nicht berichten, um die Siegeszuversicht nicht zu gefährden.
Aber im Spätsommer konnte man es nicht mehr geheim halten, dass in der Zivilbevölkerung immer mehr Menschen an der „Spanischen Grippe“erkrankten und daran starben. Innerhalb von zwei Monaten hatte das Influenzavirus den ganzen Erdball umrundet – eine erste Form der Globalisierung - und so schlimm gewütet, dass mehr Menschen an der Grippe gestorben sind als durch das Weltkriegsgeschehen. Genau kann man die Zahl der Verstorbenen nicht angeben, aber die Vermutungen reichen von 30 bis 100 Millionen Toten.
Deutschland lag mit seinen etwa 300 000 Grippe-Toten bei den Opferzahlen im „Mittelfeld“, aber es gab in einzelnen Regionen Zentren, die es besonders hart traf, und die Laichinger Alb war im Königreich Württemberg in den Monaten September und Oktober 1918 eines dieser Pandemiezentren. Als erster Ort meldete die Gemeinde Ennabeuren am 20. September, dass in den letzten Tagen sieben „im besten Alter stehende Personen“
an der Grippe gestorben seien. Dann aber traf es Laichingen besonders hart: Die „Schwäbische Albzeitung“meldete am 2. Oktober, dass innerhalb von acht Tagen sechzehn Menschen, Männer, Frauen und Kinder, der „Seuche“erlegen seien.
Eines der ersten Opfer ist der Kriegsteilnehmer Johannes Schwenkedel, der für ein paar Tage Heimaturlaub bekommen hat, um sich von den Strapazen an der Front zu „erholen“. Da wird er von der merkwürdigen Krankheit und einer Lungenentzündung befallen und stirbt einen Tag später daran. Seine Frau Walburga erkrankt ebenfalls an der Grippe und kann ihren Mann nicht mehr auf seinem letzten Gang begleiten. Wenige Stunden nach der Beerdigung stirbt auch sie – vier kleine Kinder bleiben als Vollwaisen zurück.
Am 8. Oktober, man verzeichnet in Laichingen bereits das 35. Todesopfer, ordnet das königliche Oberamt Münsingen die Schließung der Laichinger Schulen an. Außerdem sind „Ansammlungen größerer Menschenmengen“verboten, und die Wohnungen erkrankter Personen dürfen von Unbefugten nicht betreten werden. Für Auswärtige ist der Ort gesperrt, nur bei dringenden Angelegenheiten darf man Laichingen betreten.
Unterdessen häufen sich die Katastrophen in den betroffenen Familien. Besonders schlimm trifft es den Schäfer Johann Georg Böhringer, Vater von acht Kindern, der „im Felde steht“und Ende September auf „Heimaturlaub“nach Laichingen kommt. Seinen eigenen Vater findet er tot zu Hause vor, seine Mutter, die der Grippe erlegen ist, kann er nur noch auf dem Friedhof aufsuchen. Dann stirbt seine junge Frau am 1. Oktober an der „Seuche“und er selbst sieben Tage später. Das neugeborene jüngste Kind und der siebzehnjährige älteste Sohn folgen den Eltern nach einigen Tagen auf den Friedhof. Sechs Waisen, um die die Gemeinde sich kümmern muss, bleiben zurück.
Einen Arzt im Ort gibt es zu dieser Zeit nicht, denn beide Laichinger Mediziner, Dr. Mächtle und Dr. Glass, befinden sich im Kriegseinsatz „im Felde“. Die schlimmen Laichinger Verhältnisse sprechen sich bis zum König von Württemberg, Wilhelm II., dem „Demokraten auf dem Königsthron“, der zu dieser Zeit im Schloss Bebenhausen residiert, herum. Seine Frau, Königin Charlotte, eine kluge und sozial eingestellte Monarchin, beordert „allerhöchst“einen Arzt und eine Krankenschwester nach Laichingen. Aber auch die besten Mediziner können nicht helfen. Nichtmedikamentöse Behandlungen bleiben wirkungslos, Antibiotika gibt es noch nicht. Die Laichinger Homöopathen indessen warten mit erstaunlichen Anwendungen und Rezepten auf: Viel rote Rüben essen, so man überhaupt welche hat. Außerdem möge man eine Messerspitze Schwefel in die Schuhe geben. An homöopathischen Mitteln werden Aconit, Phosphorpräparate und Arsenic vorgeschlagen, und schließlich seien täglich laue Ganzkörperwaschungen angezeigt.
Der tüchtige 38-jährige Laichinger Schultheiß, Gottlob Widmann, hat alle Hände voll zu tun: Er muss die Anordnungen des Oberamts durchführen, den Familien die Todesnachrichten „vom Felde“überbringen, sich um die verwaisten Kinder, deren Eltern an der Grippe gestorben sind, kümmern, und überall nach dem Rechten sehen. Da bleibt es nicht aus, dass auch er sich infiziert. Am 11. Oktober berichtet die „Schwäbische Albzeitung“von der Erkrankung des Bürgermeisters und seiner Frau, zwei Tage später meldet das Blatt den Tod Widmanns - und wieder schickt Königin Charlotte ein Beileidstelegramm nach Laichingen.
Am Sonntag, 13. Oktober, weilt Medizinaldirektor von Rembold vom Oberamt Münsingen in Laichingen, um die Situation amtlich zu untersuchen. Erstaunlich sind seine Untersuchungsergebnisse: Er erkennt die „Seuche“als Grippe; sie sei in Laichingen nicht schlimmer als anderswo, denn am heutigen Tage habe es „nur“zwei Todesfälle gegeben. Und dann lässt er die Einwohner Laichingens wissen, was man bei Katastrophen von Amts wegen gern mitteilt: „Zu einer besonderen Beunruhigung der Bevölkerung liegt kein Grund vor.“
In diesen unheilvollen Tagen, in denen in 18 Tagen, also nicht einmal in drei Wochen, 42 Menschen in Laichingen der „Spanischen Grippe“erlegen sind, wird es kaum wahrgenommen, dass am 16. Oktober mit Pfarrer Otto Sauter der neue Ortsgeistliche in Laichingen eingetroffen ist. Wegen der Infektionskrise finden ohnehin keine Gottesdienste mehr in der St.-AlbansKirche statt.
Langsam, ganz langsam, geht die Grippeepidemie zurück. Am 27. Oktober 1918 wird die „Seuche“in Laichingen offiziell als „erloschen“erklärt. Alle Sperren werden aufgehoben und der Schulbetrieb wird wieder aufgenommen. Gleichwohl grassiert in den Nachbarorten noch eine große Angst vor einer Ansteckungsgefahr, und die Laichinger beklagen sich, sie würden in den Umlandgemeinden „wie Aussätzige behandelt.“
Im November „normalisiert“sich das Leben wieder. Nun kann man sich wieder anderen Dingen zuwenden, zum Beispiel die neunte Kriegsanleihe zeichnen, denn, so wird den Menschen von der Heeresleitung und der Reichsregierung weisgemacht: „Es gibt keine bessere Geldanlage.“
„Zu einer besonderen Beunruhigung der Bevölkerung liegt kein Grund vor.“
Siegmund von Rembold Medizinaldirektor Münsingen