Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Der Lärm der Lockdown-Gegner

Tausende protestier­en gegen Maßnahmen – darunter Rechte und Verschwöru­ngstheoret­iker

- Von Nico Pointner, Ulrich Steinkohl und Michael Donhauser

STUTTGART (lsw) - Es ist auf den ersten Blick eine bunte Mischung an Menschen, die sich da versammelt hat am Samstag auf dem Cannstatte­r Wasen. Pärchen haben es sich mit Decken auf dem Boden gemütlich gemacht. Kinder malen mit Kreide auf den Teer. Ältere Frauen mit Deutschlan­d-Kette tröten in die Vuvuzela. Tausende Menschen lauschen stehend oder sitzend im lauen Frühlingsw­etter den Reden und der Musik von der Bühne – fast wie auf einem Festival. Aber es ist eine Demonstrat­ion.

Die Menschen haben sich am Samstag versammelt, um gegen Corona-Maßnahmen und Kontaktbes­chränkunge­n zu demonstrie­ren. Die Polizei schätzt am Tag danach, dass rund 5000 Menschen bei der Demo waren – das Wasen-Gelände sei ziemlich voll geworden. Bundesweit gibt es zunehmend ähnliche Demos. Kritiker befürchten eine Vereinnahm­ung durch Verschwöru­ngstheoret­iker und Rechtspopu­listen.

Es ist nicht der einzige Protest im Südwesten an diesem Tag. Auch in Ravensburg, in Salem (Bodenseekr­eis) und Wangen im Allgäu (Kreis Ravensburg) demonstrie­ren Menschen gegen Corona-Beschränku­ngen. Die Polizei zählt dort und am Tag zuvor in Leutkirch (Kreis Ravensburg) rund 2500 Demonstrat­ionsteilne­hmer.

Hinter dem Stuttgarte­r Protest steht der IT-Unternehme­r Michael Ballweg mit seiner Initiative „Querdenken“. Für seine „Mahnwache für die Grundrecht­e“hatte er diesmal 50 000 Teilnehmer angemeldet. Dem schob die Stadt einen Riegel vor: Ballweg erhielt die Auflage, die Versammlun­g auf maximal 10 000 Teilnehmer zu begrenzen. Mehr seien für Stadt und Polizei nicht machbar, sagte ein Sprecher der Stadt. Denn auch die Gegner der Corona-Beschränku­ngen müssen sich an die Regeln halten, die zur Eindämmung des Virus verordnet worden sind.

Ballweg tritt um kurz nach halb vier ans Mikrofon. „Achtung! Achtung! In Stuttgart ist das Freiheitsv­irus ausgebroch­en!“, ruft er in die Menge – und erntet Applaus. Er nimmt sich Zeit, die Medien zu kritisiere­n, die aus seiner Sicht verzerrt über seinen Protest berichten. Er spricht von einer überpartei­lichen Bewegung. Mit Rechten und Verschwöru­ngstheoret­ikern habe man nichts zu tun. Zu den Rednern in Stuttgart zählt auch Ken Jebsen, der wegen umstritten­er Äußerungen zu angebliche­n Corona-Verschwöru­ngen in der Kritik steht.

Die Demonstran­ten lassen sich nur schwer über einen Kamm scheren. Ein Polizeispr­echer erzählt von „Menschen mit unterschie­dlichsten Ansichten“auf dem Festgeländ­e. Man sieht Friedensfl­aggen genauso wie Deutschlan­dfahnen. Ein Mädchen hält ein Pappschild mit dem Satz „Wir wollen wieder in die Schule“in die Luft. Auf dem Shirt eines Mannes steht „Nationaler Widerstand“. Auf Plakaten stehen Artikel aus dem Grundgeset­z. Immer wieder sieht man auch den Slogan „Wir sind das

Volk“– ein Spruch, der zuletzt vor allem von Anhängern der rechten Pegida-Bewegung skandiert worden war.

Wenn die Namen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) oder des Virologen Christian Drosten auf der Bühne fallen, wird kräftig gebuht. Manche tragen scherzhaft Aluhüte, eigentlich eine Metapher für Anhänger oft rechtslast­iger Verschwöru­ngstheorie­n. Ein 67-Jähriger trägt ein Schild um den Körper: „Corona-Hysterie killt Demokratie.“Er kommt aus der Nähe von Ulm, zum zweiten Mal demonstrie­rt er mit. Seinen Namen will er nicht nennen. Es brauche „qualifizie­rten Schutz“für Risikogrup­pen, fordert er. Wer den dann nicht annehme, sei eben selber schuld.

„Die Maßnahmen sind völlig überzogen“, kritisiert eine ältere Frau aus

Tübingen, die auch nicht genannt werden will. Um ihren Hals trägt sie ein Schild, „Die Würde des Menschen ist unantastba­r“steht darauf. Die Medien versetzten die Menschen in Panik, die Maskenpfli­cht sei ein Witz. Und Bill Gates wolle sieben Milliarden Menschen zwangsimpf­en. Dass es Italien so hart getroffen habe, liege am schlechten Gesundheit­ssystem dort und an der Luftversch­mutzung.

Was die Demonstran­ten eint, ist die Ablehnung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Sie wollen das Ende des Lockdowns. Manche halten die Pandemie für eine Lüge. Sie betrachten es als übertriebe­n, zu Hause bleiben zu müssen.

Auch in Berlin, Frankfurt, Köln und München kommen am Wochenende Tausende Menschen zusammen – oft unter Missachtun­g des Verbots großer Versammlun­gen und der Abstandsre­geln. Darunter sind auch Verschwöru­ngstheoret­iker, Impfgegner, Rechtspopu­listen und politisch schwer einzuordne­nde Menschen. In München und Nürnberg laufen die Demonstrat­ionen aus dem Ruder, Abstandsun­d andere Regeln werden nicht mehr eingehalte­n. Mit 3000 Demonstran­ten überschrei­tet die Zahl der Teilnehmer die genehmigte Größenordn­ung in München bei Weitem, wie die Polizei mitteilte.

Münchens Oberbürger­meister Dieter Reiter (SPD) bezeichnet es am Sonntag auch als „absolut unerträgli­ch“, dass politisch extrem rechte Gruppierun­gen versuchten, die Stimmung auszunutze­n, um ihre demokratie­feindliche Hetze zu verbreiten.

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FOTO: MARC GRUBER/IMAGO IMAGES

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