Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Jumbo, der Schnee und die Fast-Geisterspiel-Kulisse
Erinnerung an ein 0:0 zwischen Tasmania Berlin und Borussia Mönchengladbach, das exakt 827 Zuschauer miterlebten
Geisterspiel – bis vor neuneinhalb Wochen noch war das in der Fußball-Bundesliga eine wahrlich gespenstische Vorstellung. Dann kam Covid-19, kam das 2:1 von Borussia Mönchengladbach über den 1. FC Köln vor notgedrungen leeren Rängen: 11. März 2020, ein Tag fürs Sport-Geschichtsbuch. Von diesem Wochenende an sollen 82 weitere Partien ohne Publikum folgen, Anlass genug, an die vor Corona am schwächsten besuchte Begegnung im Balltreter-Oberhaus zu erinnern. Am 15. Januar 1966 erlebten 827 Unentwegte im Berliner Olympiastadion das 0:0 von Tasmania 1900 gegen Borussia Mönchengladbach. Der 19. Spieltag war’s, und das Wort zur Zuschauerzahl sprach, mit diversen Jahrzehnten Abstand, Hans-Günter Becker, seinerzeit Rechtsverteidiger und Kapitän der Berliner: „Das war natürlich deprimierend. Aber wer kann es ihnen (den ferngebliebenen Anhängern; d. Red.) übel nehmen? Eigentlich war die Saison doch schon nach der Hinrunde gelaufen.“
Pardon: eigentlich gleich vor dem ersten Bundesliga-Auftritt des Clubs aus dem Arbeiterbezirk Neukölln. Bei Ligagründung anno '63 war ihm noch Lokalrivale Hertha BSC vorgezogen worden; jetzt, da die Hertha nach statutenwidrigen Handgeldzahlungen zwangsabsteigen musste, brauchte es einen Nachrücker. Aus Berlin – das war der Wunsch von Politik, Deutschem Fußball-Bund und (so munkelte man anhaltend) dem in dieser Chose durchaus zu hörenden Axel-Springer-Verlag. Also: Tennis Borussia war als Berliner Meister soeben in der Bundesliga-Aufstiegsrunde gescheitert, der Spandauer SV, RegionalligaZweiter, wollte nicht. Tasmania aber wurde gefragt, sah, sagte zu und siegte. 2:0 zum Saisonstart, über den Karlsruher SC, zu Hause, vor 81 524 Begeisterten. Torschütze war zweimal Wulf-Ingo Usbeck, Tasmane seit jeher, unter Freunden auch „Ringo“.
Der Angreifer hatte, wie alle seine Mannschaftskollegen, erst allzu spät von Tasmanias und seinem Aufstieg erfahren: Am 31. Juli 1965 beförderte der DFB-Verbandstag Berlins vierte Kraft zur ersten, am 14. August kam der KSC. Über Radio und ADAC-Reiseruf waren die Spieler aus dem Urlaub zurückbeordert worden. Statt Ost- und Gardasee Training, statt treffsicherer Verstärkungen der Abgang von Torjäger Heinz Fischer zu Eintracht Gelsenkirchen. Nationalspieler Horst Szymaniak blieb der einzig namhafte Neue, der aber war Mittelfeldmann – überdies auch schon 31, was den Altersschnitt der Tasmania nicht eben senkte. Und aus zuvor ausnahmslos nebenher Berufstätigen nicht plötzlich Zauberzehen machte. Spielführer Becker (fortan nur noch halbtags Verwaltungsangestellter im Landesamt für Mess- und Eichwesen) schwante früh nichts Gutes: „Unser
Zenit war eigentlich schon überschritten.“
Das schlug sich rasch in Resultaten nieder. 16 Niederlagen und ein Unentschieden hatte es nach dem KSCCoup gegeben, mit 3:33 Punkten und 8:61 Toren ging Tasmania in das Duell mit Mitaufsteiger Mönchengladbach. Der Trainerwechsel, bereits in den Sechzigern Allheilmittel, war längst vollzogen, Franz Linken seit Mitte November abgelöst. Der „Spiegel“schrieb: „Der Verein zahlte ihm eine Entschädigung von 28 000 Mark und engagierte den Diplom-Sportlehrer Heinz-Ludwig Schmidt (Gehalt: 4000 Mark) für das Nachmittagstraining. Morgens unterrichtet Schmidt schwer erziehbare Kinder.“
Jetzt stand er an der Seitenlinie, ein unwirtlicher Wintersamstag war dieser 15. Januar, doch der Winter war der zwölfte Mann der Tasmania. Die Fans konnten es nicht sein – mangels Masse. 827 verloren sich im kalten Rund, sie froren zu zähen 90 Minuten, die Hennes Weisweiler hernach mit einem „So schlecht habe ich meine Mannschaft noch nie gesehen“bedachte. Auch die Holztreffer durch Bernd Rupp und Günter Netzer stimmten den Gäste-Übungsleiter nicht milder, Tasmanias Torhüter Heinz „Jumbo“Rohloff indes ermöglichten sie den Karrierehöhepunkt: „Es war das einzige Mal, dass ich zu null gespielt habe (gegen Karlsruhe stand Klaus Basikow zwischen den Pfosten, beim 0:0 in Kaiserslautern Hans-Joachim Posinski; d. Red).“Geständnis im gleichen Atemzug: „Kein Wunder, denn bei der zehn Zentimeter hohen Schneedecke blieb der Ball meistens liegen.“
Weil der Schnee alsbald schmolz, stieg Tasmania ab. Mit 8:60 Punkten und 15:108 Toren letztlich. Und der Sympathie von – ganz sicher – weit mehr als gruslig wenigen 827.